Formel 1:Wer soll Lewis Hamilton stoppen?

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Der Beste und der Schnellste, sogar mit Plattfuß: Lewis Hamilton. (Foto: Getty Images)

Die Königsklasse des Motorsports hat ein Problem: Der beste Fahrer sitzt im mit Abstand besten Auto. Nach vier Rennen kapituliert die Konkurrenz bereits.

Von Philipp Schneider, Silverstone/München

Das Rennen in Silverstone durchlebte gerade seine einschläferndste Phase, als Max Verstappen einen Funkspruch absetzte, mit dem er seine Langeweile zu bekämpfen gedachte, wie er später erzählte. Die Fahrer hatten in diesem Moment etwa zwei Drittel der Gesamtdistanz abgespult, es ergab sich folgendes Bild: An der Spitze rasten die zwei Silberpfeile unaufhaltsam dem zweiten Doppelsieg im vierten Rennen entgegen, Lewis Hamilton führte vor Valtteri Bottas. Dahinter war niemand. Auf niemand folgte irgendwann: Verstappen im Red Bull. Auch am Heck des Niederländers klaffte aus Sicht der auf gleicher Höhe stationierten Streckenposten eine Lücke, ehe endlich Charles Leclerc mit seinem Ferrari am Horizont auftauchte. Die Teams rollten entsprechend der jeweiligen Leistungsfähigkeit ihrer Autos isoliert voneinander über den Kurs. Ja, es wirkte so, als wollten sie ihr aufwendiges Hygienekonzept zur Vermeidung von Corona-Infektionen auch auf der Strecke leben. Jeder in seiner Blase.

"Es gab Zeiten im Rennen, da habe ich weder nach vorne noch nach hinten ein Auto gesehen", erzählte Verstappen später. Deshalb aktivierte er sein Funkgerät. "Ich habe dann meinen Renningenieur erinnert, dass er genug trinken soll. Normalerweise läuft das immer andersherum."

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Normalerweise laufen in der Formel 1 so einige Dinge entschieden anders als in dieser Saison. Normalerweise sitzt ein ehrgeiziger Fahrer wie Verstappen, der den Anspruch hat, eines Tages Weltmeister zu werden, nach einem Rennen, das er hätte gewinnen können, nicht auf dem Podium und erzählt, dass es völlig in Ordnung ist, dass er nicht gewonnen hat. Aber da saß er nun tatsächlich, der leibhaftige Verstappen, und sprach, ach ja, was soll's? "Sie waren deutlich schneller als wir. Deshalb verdienen sie auch den Sieg. Und deshalb bin ich jetzt auch nicht großartig sauer."

Verstappen hätte ohne seine letzten Boxenstopp wohl gewonnen

Nun muss man wissen, dass es keine Heldentaten waren, die Verstappen zuvor getrennt hatten von seinem ersten Saisonsieg 2020. In Wahrheit hätte er nur dies hier machen müssen: nichts.

Er hätte zwei Runden vor der Zieldurchfahrt, als er gerade den zweiten Platz von Bottas geerbt hatte, dem ein Reifen geplatzt war, einfach weiterfahren müssen. Er hätte schlicht nicht für einen frischen Satz Reifen rechts ranfahren dürfen, um sich den Extrapunkt für die schnellste Rennrunde zu sichern. Das hätte genügt. Aber die Wahrheit war auch, und Verstappen ist ein ehrlicher Kerl: Das Finale dieses Rennens in Silverstone bestrafte die Piloten der schwarz lackierten Silberpfeile mit zwei Schicksalsschlägen, die sie nicht einmal aus Sicht Verstappens verdient hatten: Zwei Runden vor Schluss platzte der Vorderreifen links bei Bottas, in der Schlussrunde auch der von Hamilton: ebenfalls vorne links. Der sechsmalige Weltmeister schlurfte in der letzten Runde mit seinem schlappen Plattfuß gerade noch rechtzeitig ins Ziel vor dem heranfliegenden Holländer. Am Ende fehlten Verstappen 5,8 Sekunden auf Hamilton. Und sein Boxenstopp hatte ihn 26 Sekunden gekostet.

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Verstappen sagte also mit Blick auf das Missgeschick von Hamilton: "Ohne seinen Schaden wäre ich ihm nie so nah gekommen. Ich habe heute einen zweiten Platz gewonnen, nicht einen Sieg verloren." Eine gesunde Einschätzung war das. Zumal nicht klar ist, ob Verstappen ohne Reifentausch nicht auch noch das Gummi gerissen wäre: Carlos Sainz im McLaren erlebte kurz vor Schluss dasselbe Schicksal wie Bottas und Hamilton. Und Red-Bull-Teamchef Christian Horner berichtete von "rund 50 kleineren Schnitten im linken Vorderreifen" von Verstappen. Noch untersucht der Reifenhersteller Pirelli, ob der Verschleiß der Reifen auf Trümmerteile oder generelle Beanspruchung zurückzuführen ist. Die Hochgeschwindigkeitsstrecke in Silverstone hat auf Reifen eine ähnliche Wirkung wie ein Glas Wasser auf Brausebrocken: 2013 stand das Rennen wegen multipler Platten vor dem Abbruch. 2017 erwischte es beide Ferrari.

Verstappens engelsgleiche Uneigennützigkeit erklärt sich gleichwohl auch vor dem Hintergrund seiner ernüchternden Einschätzung der Gesamtsituation: Vier Rennen sind nun gefahren in dieser seltsamen Saison der Formel 1 mit lauter Geisterrennen. Weil Bottas am Sonntag der Reifen an der unglücklichsten Stelle platzte, er mit seinem Platten fast eine ganze Runde drehen musste, ehe er die Boxengasse erreichte und deshalb am Ende nur Elfter wurde, führt Hamilton nach seinem dritten Rennsieg bereits mit 30 Punkten vor seinem Teamkollegen.

Ob in dieser Saison irgendwer Hamilton stoppen kann auf dem Weg zu dessen siebter Weltmeisterschaft? "Nein", sagte Verstappen. Dem Ferrari-Piloten Charles Leclerc wurde dieselbe Frage gestellt, er hatte es wegen Bottas' Pech noch als Dritter aufs Treppchen geschafft. Leclerc sagte: "Nein." Es gebe, wenn überhaupt, nur einen, der Hamilton noch fordern könne: "Dieser Kerl ist Valtteri, aber das war's dann auch."

Jener Valtteri hatte seinem von der Pole Position losrollenden Teamkollegen allerdings nach dem Start hübsch Platz gelassen in der ersten Kurve. Obwohl er weit reaktionsschneller in die Gänge gekommen war, hatte er keinen jener Angriffe auf seinen Garagennachbarn unternommen, den vielleicht Nico Rosberg versucht hätte - Bottas' Vorgänger bei Mercedes. Für den weiteren Spannungsbogen dieser Saison lässt das keine erfreulichen Prognosen zu: Der beste Fahrer sitzt im mit Abstand besten Auto. Und sein Teamkollege sieht das auch noch ein. Zur Freude von Teamchef Toto Wolff. Der beschrieb kürzlich, weswegen die Fahrerpaarung, mit der er sehr bald verlängern möchte, aus seiner Sicht so optimal ist: "An einem schlechten Tag von Lewis ist Valtteri da. Und an einem guten Tag ist Lewis unschlagbar."

Lewis Hamilton hat nicht nur die Meisterschaft im Lenken von Formel-1-Autos erreicht. Er hat auch längst eine Meisterschaft darin entwickelt, im richtigen Moment die passenden Vorlagen zu bieten, um sich für seine Künste feiern zu lassen. Mit großer erzählerischer Gabe schmückte er am Sonntag seine Erlebnisse auf der letzten Runde aus. "Das hier war sicher das dramatischste Ende eines Rennens, an das ich mich erinnern kann", sagte er. "Mir wäre fast das Herz stehen geblieben." Er habe versucht, mit konstanter Geschwindigkeit zu fahren, damit es den Reifen nicht von der Felge runterzieht. Die Box habe ihm permanent den Vorsprung zu Verstappen durchgegeben. Vor der letzten Kurve betrug er nur noch sieben Sekunden. Und dann, sagte Hamilton, "habe ich einfach nur noch Gas gegeben".

© SZ vom 04.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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