Vor dem Spiel hat er den Ball geküsst. Und nachher hat er ihn nach Hause getragen, nach Mirandola in der Provinz Modena. Dort, mitten im Schlaraffenland von Lambrusco, Parmaschinken und Parmesan ist der Schiedsrichter Nicola Rizzoli der größte VIP seit dem hochwohlgeborenen Grafen Giovanni Pico della Mirandola - einem als Ketzer verfemten Renaissancephilosophen, der sich mit Abhandlungen über die menschliche Würde hervortat.
Jawohl, Würde, darum geht's doch immer. Und was den Schiedsrichter im WM-Finale angeht, so ist dieser eigentlich ununterbrochen und unter erschwerten Bedingungen damit beschäftigt, sie zu verteidigen. Denn nie sind die Würde des Weltfußballs im Allgemeinen und die des Schiedsrichters im Besonderen derart angreifbar wie in den letzten 90, manchmal auch 120 Minuten einer Weltmeisterschaft. Sogar die Spieler haben es irgendwie noch besser. Sie mögen auf Eiern gehen, durch den Morast waten, sich durch's Unterholz schlagen. Der Schiedsrichter aber geht die ganze Zeit auf glühenden Kohlen.
Schlägt er sich achtbar, hat er seine Pflicht getan und ist drei Tage später vergessen. Macht er einen falschen Schritt, so wird er als Skandalnudel in die Geschichte eingehen, nicht ohne zuvor bei kleiner Flamme auf dem Scheiterhaufen des Internets geröstet zu werden. Um es vorwegzunehmen: Dem 42 Jahre alten Rizzoli gelang irgendetwas dazwischen, was ihm ein ruhiges Leben in Mirandola garantieren dürfte. Mal tobten die Argentinier, mal mussten die Deutschen schlucken, am Ende glich es sich irgendwie aus in einem Finale mit dem Titel: Bigger than life. Wenn die Sache so läuft, ist der Spielleiter zum Glück nicht spielentscheidend.
In dem Architekten Rizzoli stand der dritte Italiener als Schiedsrichter in einem WM-Finale, nach Sergio Gonella (1978) und Pierluigi Collina (2002). Der Glatzkopf Collina, inzwischen Chef der Schiedsrichterkommission der europäischen Fußball-Union Uefa, gilt als einer der besten Referees der Geschichte, er ist charismatisch, zupackend, entscheidungsstark. Allesamt Eigenschaften, die bei Rizzoli nicht überdurchschnittlich herausstechen. Von ihm heißt es eher, er sei diplomatisch und gesprächsbereit. Eher zu wenig pfeifen als zu viel. Eher mal wegschauen als die Spieler piesacken. Erst mal keinen reinkriegen, die alte italienische Fußballweisheit gilt durchaus auch für Schiedsrichter.
Bundestrainer Joachim Löw:In der Ahnengalerie des deutschen Fußballs
Mit Joachim Löw klappt das nie mit dem Titel! So unkten Kritiker. Doch bei seinem vierten Fußball-Großereignis erfindet sich der Bundestrainer neu: Er trifft die richtigen Entscheidungen und sorgt für eine harmonische Atmosphäre. Doch sollte ein Weltmeister-Trainer nicht besser abtreten?
Nicht von ungefähr gehören italienische Unparteiische international immer zu den besten. Sie sind flexibel, niemals dogmatisch, immer gut vorbereitet. Vor allem sind sie zu Hause, wo der Referee traditionell weniger als Inkarnation von Recht und Gesetz denn als suspekter Erfüllungsgehilfe finsterer Mächte gilt, wirklich Schlimmeres gewöhnt. Wer Juventus gegen Napoli gepfiffen hat oder Roma gegen Lazio, der geht auch in ein WM-Finale relativ gelassen. Denn die Kohlen von Maracanã können nicht heißer sein als der glühende Rasen des Stadio San Paolo unter dem Vesuv.
Rizzoli übersah in diesem WM-Finale also manches. Oder besser: Er sah keine böse Absicht. Etwa, als der Argentinier Ezequiel Garay seinen Gegner Christoph Kramer mit der Schulter so übel am Kopf traf, dass Kramer zu Boden ging und kurz darauf den Platz verlassen musste. Oder als Sergio Agüero seine Faust ins Gesicht von Bastian Schweinsteiger senkte. Rizzoli ließ den bereits verwarnten Agüero gewähren, ebenso wie Mascherano und Biglia, die sich ähnlich hingebungsvoll in den Deutschen verkeilten.
Da wirkte es schon merkwürdig, dass der von den Argentiniern nachgerade systematisch verprügelte Schweinsteiger seinerseits für ein Foul an Ezequiel Lavezzi verwarnt wurde, obwohl er den Kollegen gar nicht berührt hatte. Manuel Neuer hingegen prämierte der Schiedsrichter überraschend, als der deutsche Schlussmann Gonzalo Higuaín mit aller Wucht an der Strafraumgrenze entgegen sprang. Die Welt sah in dieser Episode nur Neuers Knie gegen Higuaíns Kopf. Rizzoli jedoch erspähte Neuers Hand am Ball. Und entschied auf Stürmerfoul.
Die Assistenten Faverani und Stefani zeigten an der Linie Eleganz und Präzision
War's gut? War's schlecht? Elfmeter war es jedenfalls nie, und am Ende zählte nur Götze. Nein, nicht ganz: Hoch sind die Assistenten Renato Faverani und Andrea Stefani zu loben, die mit wahrhaft weltmeisterlicher Eleganz und Präzision an den Linien agierten. Stefani ließ sich vom wilden Rumgejubel des Napoli-Stürmers Higuaín bei dessen Abseitstor nicht beeindrucken, lächelnd erklärte er die Lage dem verstört protestierenden Lionel Messi. Und Faverani sah Müllers Abseitsposition beim Pfostenschuss von Benedikt Höwedes kurz vor der Pause: besser als ein Roboter.
Deutschland in der Einzelkritik:Die Sternenfänger
Sie haben Deutschland den vierten Titel geholt - sie sind die Mannschaft schlechthin. Die Weltmeister in der Einzelkritik: Manuel Neuer, bester Torhüter der WM, verursacht eine Kung-Fu-Kollision. Bastian Schweinsteiger lässt sich selbst von einer blutenden Wunde nicht aufhalten. Und Mario Götze braucht nur eine Aktion, um alles zu ändern.
Unparteiisch soll ein Schiedsrichter sein, als einziger. Gerade im WM-Finale. Und während in der Heimat selbst die Edelfedern des Journalismus Partei für Argentinien ergriffen, weil ihnen zu den Nachbarn aus Europa wieder nur einfiel, "dass sie unser Land mit Zehntausenden von Toten überzogen haben" (so Aldo Cazzullo vom Corriere della Sera) und überhaupt "grausam sind, wie nur Deutsche sein können" (Emanuele Gamba von La Repubblica), wirkte Rizzoli in keiner Sekunde wie Italiens Rache. "Ein Schiedsrichter" befand nach dem Finale sehr weise der Corriere dello Sport, sei der Notar der Veranstaltung. "Er ist nicht für das Spektakel zuständig." So wie die Spieler. Und manche Journalisten.
Und doch ist im Zeitalter des Internets natürlich auch der Referee ein Teil der Show. Vorbei die Zeiten, da er sich, in schlichtes Schwarz gewandet, hinter den Spielern verstecken konnte. Dabei hat Nicola Rizzoli aus Mirandola erstens eine ganz ordentliche Figur gemacht. Zweitens seine Würde mit beachtlicher Leichtigkeit verteidigt. Und drittens ist er sowieso froh darüber, dass er den größten Tag seiner Karriere vermutlich jetzt hinter sich hat. Denn wie sagte Nicola Rizzoli kürzlich als Statist in dem kleinen, italienischen Film Der verkehrte Himmel: "Ich habe nie verstanden, was daran toll sein soll, auf dem Platz zu pfeifen." Um den Pokal spielen nämlich immer nur die anderen.