Manchmal muss einfach ein bisschen Zeit vergehen, um ein Geheimnis verraten zu können. Heute könne man das ja offen sagen, sagte Ilkay Gündogan also im vergangenen Herbst in einem SZ-Gespräch, natürlich habe er mal Gespräche mit dem FC Bayern geführt; man sei aber "aus unterschiedlichen Gründen" nicht zusammengekommen. Die "unterschiedlichen Gründe" sind im Profifußball das, was im Rockgeschäft die "musikalischen Differenzen" sind, es sind Codes, die jeder lesen kann. Musikalische Differenzen heißt, dass die Bandmitglieder sich wegen Kohle und Frauen die Gitarren um die Ohren hauen, die unterschiedlichen Gründe gehen meistens nur in Richtung Kohle. Damals war es offenbar so, dass die Bayern Gündogan weniger anboten als vom Spieler erhofft; jedenfalls konnte der Spieler daraus nicht jene heilige Wertschätzung entnehmen, die ihm der damals zuständige Trainer Guardiola entgegenbrachte. Gündogan ging nicht zum FC Bayern, Guardiolas Traum war damit geplatzt: Er hatte das stilbildende Barcelona-Duo Xavi/Iniesta in München nachbauen wollen. Gündogan sollte Xavi sein, Thiago war Iniesta.
Guardiola hat Gündogan (also Xavi) später nach Manchester geholt, dem FC Bayern blieb sein Iniesta, und so wie es aussieht, wird den Münchner ihr Iniesta noch eine Weile erhalten bleiben. Spieler und Verein haben sich offenbar auf eine Verlängerung des bis 2021 datierten Vertrages geeinigt, in Kürze soll Thiago die Unterschrift dazu liefern. Zu erwarten ist eine Laufzeit bis 2023, und man mag es ja kaum glauben: Im Sommer 2023 wäre Thiago tatsächlich ein Jahrzehnt beim FC Bayern.
FC Bayern:Rio liegt am Tegernsee
Miroslav Kloses Berufung zum Co-Trainer steht bevor. Hansi Flick wird den mutmaßlichen Neuen mit Wohlwollen und Neugier empfangen.
Thiago oder nix: Der berühmte Guardiola-Satz ist tatsächlich sieben Jahre her. Und Thiago Alcántara, 29, schreibt den Satz nun wohl auf seine Weise fort: Bayern und dann nix mehr. In der Zeitung La Vanguardia hat er zumindest angedeutet, dass Bayern der letzte Klub in seiner Laufbahn bleiben könnte. Es müssten ein paar Dinge zusammenkommen, sagte er zwar, "dass du das Niveau hast, dass der Verein nicht irgendwann einen Spieler für deinen Posten sucht, der 1,90 m groß ist ..." Aber, so sagte er auch: Der FC Bayern "wäre ein wundervoller Klub, um eine Karriere zu beenden".
Flick hat Thiago in einen neuen Zusammenhang gebracht
Dass der FC Bayern für Thiagos Posten einen Spieler sucht, der 1,90 m groß ist, das muss Thiago (1,74 m) nicht befürchten. Den etwas baufällig gewordenen Javier Martínez (1,92) haben die Münchner ja ohnehin schon im Kader, und selbst wenn sie den im Sommer in Ehren verabschieden sollten, haben sie keineswegs vor, sich bei der möglichen Nachfolgersuche an Martínez' Konfektionsgröße zu orientieren. Bayerns Trainer Hansi Flick (1,77 ) hat früher selbst im defensiven Mittelfeld gespielt, er hat ein gutes Gespür für diese Räume, und es war eine seiner ersten Amtshandlungen, diesen Räumen etwas Gutes zu tun.
Flick hat Thiago in einen neuen Zusammenhang gebracht, indem er Joshua Kimmich ins defensive Mittelfeld umziehen ließ. Thiago durfte eine halbe Position weiter nach vorne rutschen - mit der spielentscheidenden Nebenwirkung, dass er nicht mehr gegen sein Naturell die defensive Gesamtverantwortung tragen musste.
In den ersten Spielen unter Flick saß Thiago noch draußen, aber es war kein Misstrauensvotum des neuen Trainers, im Gegenteil: Flick hält Thiago für "Weltklasse", er wollte ihn erst vollends fit werden lassen, bevor er ihm das Spiel in beide Richtungen anvertraut. Nach vorne darf Thiago Artist sein, nach hinten soll er schuften, und es ist ihm wichtig zu betonen, dass er beides kann. "Die Leute neigen dazu, Spieler zu etikettieren", sagt er im La-Vanguardia-Interview, "aber wenn man sich die Daten ansieht, sieht man, dass ich viele Bälle erobere und auch zu vielen Dribblings ansetze, weshalb ich gar nicht so gern als der große Passspieler bezeichnet werde."
Der große Passspieler, das wäre ja Xavi. Thiago hingegen ist Iniesta, und als solcher möchte er schon "sagen können, dass ich mich als kompletter Fußballer fühle". Er kann ja sogar grätschen.
Es gehört zum Plan der Bayern und von Sportchef Hasan Salihamidzic, erst "die eigene Qualität zu halten", wie Flick das sagt, bevor sie neue ins Haus holen. Zwar haben sich die Münchner auch mit Leverkusens Charles Aránguiz, 31, beschäftigt - keine schlechte Idee, ein ablösefreier Routinier, der als 12. Mann taugt und trotzdem Bayern-Niveau hat. Aber Flick war nicht traurig, dass daraus nichts wurde: Er will Kimmich/Thiago in dieser Zone spielen lassen, sie sollen die Leitplanken aufstellen, aus denen Thomas Müller davor immer wieder ausbüxen darf; und Leon Goretzka gilt es ja auch noch irgendwo unterzubringen.
Er fühle sich mit 29 besser als mit 24, sagt Thiago im Interview noch, "und ich hoffe, dass ich mit 34 besser bin als mit 29". Das wäre praktisch, denn eines fehlt Thiago tatsächlich noch: das große Spiel, das er für die Bayern herumgerissen hat, der eine Moment, der die Geschichte verändert und den man später ins Klubmuseum hängen kann. Andrés Iniesta, das nur so als Beispiel, hat mit seinem Tor das WM-Finale 2010 entschieden.