European Championships:Erhitzte Gemüter

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Bilder, die in München niemand sehen will: Die Belarussin Sviatlana Kudzelich ist nach dem WM-Marathon in der Hitze von Doha völlig entkräftet. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

In einem flammenden Appell fordern die Athleten die Veranstalter der Leichtathletik-Europameisterschaften auf, die EM-Marathons aus der Mittagsglut in die Morgenstunden zu verlegen. Nur: Hätten die Sorgen der Sportler nicht längst erstickt werden können?

Von Johannes Knuth und Ralf Tögel, München

Die Welt des Leichtathletiktrainers Kurt Ring besteht für gewöhnlich aus Laktaktschwellen, Intervallläufen und anderen netten Dingen, die Läufer noch ein bisschen schneller laufen lassen. Seit einiger Zeit bildet Ring sich auch darüber hinaus fort, unfreiwillig allerdings. Dabei geht es vor allem um Temperaturkurven, Luftfeuchtigkeit und 14-Tage-Wettertrends.

Rings Regensburger Lauf-Abteilung stellt allein vier Athletinnen und Athleten für die Marathons, die am kommenden Montag bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in München angesetzt sind: um 10.30 Uhr für die Frauen, um 11.30 Uhr für die Männer. Derartige Anlaufzeiten, bei prognostizierten Temperaturen um die 30 Grad, mögen zwar TV-Quoten und Zuschauerpräsenz an der Strecke steigern, die Athletinnen und Athleten lässt das aber nicht gerade schneller rennen. Und ihr Wohlergehen fördert es schon gar nicht, wenn es sie ab Kilometer 35 in den roten Bereich treibt; geschweige denn die Aussicht auf künftige Sponsorenverträge und Sportförderung, die von Ergebnissen abhängen.

Vor allem deshalb veröffentlichte die Sportlervertretung Athleten Deutschland jetzt einen offenen Brief, adressiert an den Europäischen Leichtathletik-Verband (EAA), die Olympiapark GmbH und die Sendervereinigung EBU, die auch die Startzeiten in München abstimmen. Man habe erfolglos bei den Verantwortlichen vorgesprochen, hieß es darin, man verspüre auch sonst nicht das Gefühl, dass die Veranstalter vom Marathon zur Mittagsstunde abrücken wollten. Deshalb nun der öffentliche Appell, die Zeiten sofort anzupassen. Signiert wurde der Brief von allen deutschen EM-Startern, darunter der deutsche Rekordinhaber Amanal Petros; auch internationale Prominenz hat sich dem Aufruf angeschlossen, wie Lonah Salpeter aus Israel, zuletzt WM-Dritte in Eugene.

Nur, so nachvollziehbar das alles klingt, auf den ersten Blick: Es verwundert schon, dass es überhaupt zu einem solchen Aufschrei kommen musste.

Eine Petition und ein öffentlicher Brief: Wurden die Athleten ungenügend informiert?

Die Multisport-Europameisterschaften, in die auch die Leichtathleten eingebettet sind, sind ein kompliziertes Konstrukt, das muss man dazu wissen. Sie werden federführend von der European Championships Management (ECM) choreografiert, eine Schweizer Agentur. Diese hat sich mit Gastgeber München, allen voran der Olympiapark GmbH, auf das Programm geeinigt, auf Personal und Abwicklung. Die Wettkämpfe - neun Europameisterschaften in neun Sportarten - koordinieren dabei nicht, wie üblich, die nationalen Verbände, der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) etwa im Fall der Leichtathletik. Die ECM stimmt sich mit den europäischen Dachverbänden ab, in der Leichtathletik also mit Europas Leichtathletik-Verband EAA. Anders gesagt: Der DLV hat, zum ersten Mal überhaupt, bei internationalen Meisterschaften im eigenen Land nichts zu melden, bis hin zur Frage der Marathon-Startzeiten. (In der Wettkampfordnung des DLV steht lustigerweise, dass Straßenläufe über 20 Kilometer von Juni bis August bis 9 Uhr oder ab 18 Uhr gestartet werden sollten.)

Und doch wirkt nicht nur das Verhalten des DLV in dieser Causa merkwürdig. Viele Marathonläufer, vor allem aus Deutschland, hatten schon im vergangenen Februar eine Petition gegen die Mittags-Startzeiten lanciert. Sie kritisierten darin explizit den europäischen Leichtathletik-Verband und die ECM. Ein prominenter Unterstützer des Aufrufs: der DLV. Zugleich bestätigte der Verband zuletzt, er stehe seit Beginn dieses Jahres mit den Veranstaltern und Organisatoren in München in Kontakt.

Aus Kreisen der Münchner Ausrichter ist zu hören, dass man damals längst das Protokoll für die EM-Marathons festgezurrt hatte, in Absprache mit dem Europäischen Leichtathletik-Verband: Man wolle die Läufe am liebsten zur Mittagszeit durch die Münchner Innenstadt lenken, um den Sportlern die verdiente Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sollte sich heißes Wetter ankündigen, werde eine medizinische Kommission der EAA die Marathons spätestens zwei Tage vor dem Wettbewerb in die Morgenstunden verlegen. Das sei seit September 2021 aktenkundig gewesen. Und das habe der Europäische Leichtathletik-Verband damals an alle Mitgliedsverbände - den DLV inklusive - weiterleiten wollen. Wobei der DLV von den Verantwortlichen in München im vergangenen Frühjahr noch einmal auf die Verlegungspläne aufmerksam gemacht wurde.

Die Athleten fürchten ein Hitzerennen, dabei schreibt das Protokoll vor, den Start in den Morgen zu verschieben

Wenn der Europäische Leichtathletik-Verband also seit Monaten im Bilde war, der DLV zudem spätestens seit Jahresbeginn - weshalb drang dieses Hitze-Protokoll offenbar nicht oder nur unzureichend bis zu vielen Athleten vor? Und wieso hieß es noch im Juni auf eine Nachfrage bei einer DLV-Pressekonferenz zur umstrittenen Marathon-Startzeit knapp, dass man Hitze-Szenen wie zuletzt bei der WM in Doha auf jeden Fall vermeiden wolle, bei der EM in München aber "nicht die Spielregeln" gestalte (DLV-Vorstandschef Idriss Gonschinska) - obwohl der Verband längst wissen musste, wie diese Spielregeln aussehen?

Die EAA lässt eine Nachfrage unbeantwortet, ob und wann sie ihre Landesverbände oder Athletenvertreter über das Hitze-Protokoll informiert habe. Dafür schreibt der DLV, dass er tatsächlich schon im März vom europäischen Leichtathletikverband erfahren habe, dass die Marathon-Startzeiten geprüft werden sollen, "wenn aufgrund der Hitze ein Risiko für die Gesundheit der Athleten besteht". Man tausche sich seit Jahresbeginn ohnehin "kooperativ" mit den Münchner Ausrichtern aus, die Petition der Athleten gegen den europäischen Verband habe man allein "zum Schutz und im Sinne" der Sportler unterstützt. Die Athletenvertretung im DLV sei über die möglichen Verschiebungen auch früh informiert gewesen. Auf die Frage, weshalb der Verband dann öffentlich lange nichts zu den Verschiebungsplänen der Veranstalter sagte, teilt der DLV mit, dass man in München nun mal nicht die Entscheidungshoheit besitze, und: "Bisher gibt es noch keine definitive Entscheidung zu einer möglichen Verschiebung der Startzeiten."

Wohl aber ein definitives Protokoll, das genau vorschreibt, wann und wie es dazu käme. Und so stellt sich am Ende schon die Frage, ob die Fachverbände - ob nun zuständig oder nicht - nicht viel früher und deutlicher vielen Athleten und Trainern jenen Ärger und jene Ungewissheiten hätten nehmen können, die sie monatelang zu unfreiwilligen Wetterforschern avancieren ließ.

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