Erster Chinese bei der Tour de France:Vorradler am Ende des Feldes

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Cheng Ji: In höherer Mission bei der Tour de France (Foto: REUTERS)

Erstmals bestreitet ein Sportler aus China die Tour de France - und er fährt fast allen hinterher. Doch für seine Sponsoren ist das weitgehend unbedeutend: Sie wollen mit der Nominierung von Cheng Ji das Radfahren in China wieder populär machen.

Von Johannes Aumüller, Lyon

Wenn Cheng Ji bis Paris durchhält, dann hat er Chancen auf eine vielbeachtete Auszeichnung. Die Tour de France ist eine Veranstaltung voller Merkwürdigkeiten, und zu den sympathischeren Merkwürdigkeiten gehört eine traditionelle Konzentration aufs Ende des Klassements. Kaum jemand bei dieser Tour interessiert sich für den Viertletzten der Gesamtwertung, den Dritt- oder den Zweitletzten, aber der Mann, der den letzten Platz belegt, kann es zu einiger Berühmtheit bringen.

Er erhält dann den Ehrentitel "Lanterne Rouge", rote Laterne, und er darf sich freuen, dass vor dem Zeitfahren am vorletzten Tag entlang der Strecke ständig sein Name aus den Lautsprechern der vorbeifahrenden Autos erklingt, weil sie darauf hinweisen, dass mit besagtem Radler gleich das Rennen beginnt. Es soll schon Radfahrer gegeben haben, die sich extra zurückfallen ließen, um diese letzte Position zu erreichen anstatt eines anonymen viertletzten Platzes.

Selbstlos fährt Cheng Ji für seine Kapitäne

Bei Cheng Ji ist das anders. Er hat zwar beste Chancen auf die rote Laterne (am Ruhetag hatte er sie mit fast einer Viertelstunde Vorsprung auf den Italiener Elia Viviani inne), aber der 26-Jährige interessiert die Radsport-Szene auch aus anderen Gründen. Weil er der erste Chinese in der 111-jährigen Geschichte der Tour de France ist, der die dreiwöchige Rundfahrt bestreitet. Und weil er beispielhaft dafür steht, wie Mannschaften und ihre Sponsoren den Radsport und die Tour nicht nur nach sportlichen, sondern auch nach ökonomischen Kriterien angehen.

Es gibt Leute im Rundfahrt-Tross, die sagen, dass Cheng Ji aus rein sportlicher Sicht bei der Tour nichts verloren habe. Es gibt andere Leute, die das für Quatsch halten und darauf verweisen, wie selbstlos und frühzeitig er sich für seine Kapitäne Marcel Kittel und John Degenkolb aufopfert: Wann immer die auf Massensprints ausgerichtete Giant-Shimano-Mannschaft Ausreißer einholen will, ist es Cheng Ji, der als Erster die Verfolgung aufnimmt, weswegen ihm manche schon den Spitznamen "Breakaway-Killer" verliehen haben. Auf jeden Fall tritt man Cheng Ji aber nicht zu nahe mit der These, dass seine Chancen auf eine Tour-Teilnahme deutlich schlechter gewesen wären, wenn er statt in Harbin/Nordchina in Hamburg/Norddeutschland zur Welt gekommen wäre.

China ist ein riesiger Markt und damit auch ein riesiger Fahrradmarkt. Noch dominiert dort zwar der Spruch "Lieber auf dem Rücksitz eines BMW weinen, als auf dem Fahrrad lachen", den die Teilnehmerin einer Fernsehshow mal prägte. Aber es ist ja nicht so, dass das Land keine Rad-Tradition hätte. Pu Yi, der letzte Kaiser, war ein passionierter Radler, in der kargen Mao-Zeit war das Fahrrad sogar ein besonderer Luxus und eine besondere Leidenschaft, und in den Jahren danach fuhren mehr als drei Viertel der Chinesen mit dem Fahrrad zur Arbeit.

Und jetzt gibt es durchaus Tendenzen, dass wegen der vielen Autos auf den Straßen und der unendlichen Staus viele Menschen wieder umsatteln - auf ihre Modelle und Produkte, hoffen der in Taiwan gegründete Fahrradhersteller Giant und der Fahrradkomponentenspezialist Shimano natürlich.

So kam die mit einer niederländischen Lizenz ausgestattete Rad-Equipe schon vor einigen Jahren auf die Idee, ein langfristiges Projekt anzugehen. Damals war nur Shimano Sponsor, Giant folgte erst 2013. Das Team sichtete in China diverse junge Radprofis - und darunter war auch dieser Cheng Ji, ein Talent, das vor der Tour gegenüber dem offiziellen Rundfahrt-Organ von einer besonderen Biographie berichtete: Im kalten Harbin nahe der chinesisch-sibirischen Grenze kam er zur Welt, als zweites Kind seiner Eltern, was angesichts von Chinas Ein-Kind-Politik eine heftige Strafe zur Folge hatte.

Er wurde ein guter Läufer, dann stieg er auf Radsport um, aber in erster Linie trainierte er auf dem Hometrainer, "weil es draußen so kalt war". Ohne Radschuhe bestand er ein Sichtungsrennen für Chinas Auswahl und dann hörte er von Shimanos Casting. "Sie haben mich befragt und wollten vor allem wissen, ob ich kochen kann und Englisch spreche. Ich habe ihnen geantwortet, dass ich für mein Leben gern koche und bereit wäre, Englisch zu lernen. Und Sie können meine Teamkollegen fragen: Ich bin ein hervorragender Koch. Meine Spezialität sind in Cola gekochte Hähnchenflügel."

Hoffnung auf ein chinesisches Team

Die Verantwortlichen bei Giant-Shimano sind nicht die einzigen im Peloton, die ihren Blick vermehrt nach China richten. Es gibt die Hoffnung, sich neben den klassischen Radsportländern in Europa und Amerika mit ihrem teilweise kritisch und skeptisch gewordenen Publikum einen neuen Markt zu erschließen.

Etwas paradox ist das schon, wenn man an den vorgeblichen Anti-Doping-Kampf des Radsports denkt; immerhin zählen Fachleute China immer wieder zu den Nationen mit den diesbezüglich größten Problemen. Aber der Radsport hat sich nun mal für diesen Schritt entschieden. Seit 2011 gibt es die Peking-Rundfahrt, manch einer hofft sogar auf den Einstieg eines chinesischen Unternehmens als Sponsor einer Mannschaft - auch dank der Vorarbeit, die Cheng Ji gerade leistet.

Der Mann aus Harbin muss seine Tour zwar im Einzelzimmer und oftmals im Wind an der Spitze des Feldes verbringen, trotzdem scheint es ihm zu gefallen. Als das Team vor ein paar Jahren seine Suche nach chinesischen Talenten startete, war Cheng Ji nicht der einzige, der es in Europa versuchte. Und er sagte selbst mal, dass er nicht der talentierteste seiner Landsleute gewesen sei. Aber seine Teamleitung fand, dass er am ehesten in der Lage war, sich der Radsportkultur anzupassen.

© SZ vom 17.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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