Halbfinale bei der EM 2021:England gibt sich dem Rausch hin

Lesezeit: 5 min

Nach dem eindrücklichen 4:0-Erfolg über die Ukraine feiert die englische Öffentlichkeit in einer Art und Weise, die kaum noch Raum für Steigerungen lässt. Nur Trainer Southgate sieht noch "einen langen Weg" bis zum ersten EM-Titel.

Von Sven Haist, London

Mit einem Pint Bier in der Hand und mehreren fliegenden Pints Bier über dem Kopf wagten die englischen Fans, im Gefühl der Glückseligkeit über den Einzug ihrer Nationalmannschaft ins EM-Halbfinale, den Aufstieg zur circa elf Meter hohen Shaftesbury Memorial Fountain. Die Sehenswürdigkeit, im Volksmund fälschlicherweise als "Eros" abgekürzt, steht am Piccadilly Circus, dem Herzstück der Weltstadt London; sie hat einen geselligen Brunnen als Sockel und verläuft in mehreren Abschnitten steil nach oben.

An der Spitze überragt die Skulptur der geflügelte, auf einem Bein stehende Anteros, entworfen vor 130 Jahren in Anlehnung an den gleichnamigen griechischen Gott der Gegenliebe, um den wohltätigen Lord Shaftesbury zu ehren, einen bekannten Sozialreformer des 19. Jahrhunderts. Am späten Samstagabend hatten ein paar Anhänger nun ebenfalls eine Ehrung im Sinn, mithilfe geschickter Klettergriffe und der tatkräftigen Unterstützung der am Boden feiernden Masse gelang es ihnen, den Gipfel zu erklimmen - und in dünner Luft die Nationalflagge in den Himmel zu hissen.

Kann England tatsächlich den EM-Titel holen?

Auf der kleinen Empore des Piccadilly Circus mussten dann aber selbst die hartnäckigen Gipfelstürmer akzeptieren, dass in dieser Nacht der höchste Punkt erreicht war. Weiter nach oben könnte es erst wieder am Mittwoch gehen, mit einem Halbfinalsieg über Dänemark, und eventuell am darauffolgenden Sonntag, wenn sich England im Finale gegen Italien oder Spanien durchsetzen würde - und sich dann erstmals in der Historie tatsächlich Europameister nennen dürfte.

Dabei hatte schon dieses 4:0 in Rom gegen chancenlose Ukrainer vielen Landsleuten schwer die Sinne vernebelt. Was die gepflegte Ekstase betraf, ließ der Nachgang der Partie jedenfalls nicht mehr viel Spielraum, und viel mehr Rausch würde sich wohl auch kaum ertragen lassen. Das Erreichen des zweiten Turnierhalbfinales in Serie, nach dem vierten Platz bei der WM 2018, erlebt die jüngste Generation der Engländer gerade zum ersten Mal.

Ein vergleichbarer Erfolg war den Three Lions zuletzt vor einem halben Jahrhundert gelungen, als sie nach dem Heimsieg bei der WM 1966 zwei Jahre später die Vorschlussrunde der EM erreichten. Entsprechend entrückt ging es nun zu auf den Straßen. Der Anlass artete schnell in eine Saturday Night aus, wie sie die Künstlerin Whigfield besungen hat: "Es ist Partyzeit, und wir dürfen keine Minute verlieren."

Um Mitternacht muss die Polizei den Leicester Square abriege

Nun schrien sich die Menschen in den Pubs und Bars des Landes also gegenseitig ihre Begeisterung ins Gesicht. Allein in London versammelten sich Tausende im Ausgehviertel Soho; in der Fanmeile am unweit entfernten Trafalgar Square drohte der Veranstalter, die Spielübertragung frühzeitig zu beenden, weil die Anhänger auf die Tische stiegen und die Aufforderungen des Sicherheitsdienstes ignorierten. Um Mitternacht musste sogar der Leicester Square mit einem Großaufgebot der Polizei abgeriegelt werden, weil die Lage in der Fußgängerzone zunehmend außer Kontrolle geraten war.

Der Grafikdesigner Matt fand zum Beispiel, dass er bereits fühlen könne, dass Kapitän Harry Kane das Siegtor im Endspiel erzielen werde; und für den Finanzangestellten Jon gab es nur einen "Prinz Harry" - und der spiele natürlich fürs englische Nationalteam.

"Well sprayed!", titelte das Massenblatt Sun zu den Feierarien und zielte damit selbstverständlich mehr auf das herumgespritzte Bier ab anstatt auf jene Fans, die sich aufgrund zu großer körperlicher Nähe womöglich ebenso mit reichlich Corona-Viren eingesprüht haben könnten. Die Arbeitswelt auf der Insel konnte in Anbetracht der Volksfeststimmung beinahe froh sein, dass auf diese Saturday-Night-Party zunächst ein geruhsamer Sonntag folgte.

Ein Tor, das auch die letzten Kritiker besänftigen dürfte: Harry Kane (links) wuchtet den Ball zum dritten englischen Treffer über die Linie. (Foto: Ettore Ferrari/AFP)

Der Auslöser für die riesige Sause war eine Darbietung des Nationalteams um Trainer Gareth Southgate gewesen, die jeden Geschmack getroffen hatte. Für die Liebhaber einer stabilen Defensive lieferte England den fünften gegentorlosen Auftritt im fünften Turnierspiel, das hatte bis dahin einzig Italien bei der Heim-WM 1990 geschafft.

Mittlerweile haben die Three Lions seit dem WM-Qualifikationsspiel gegen Polen im März seit elf Stunden und zwei Minuten keinen Treffer hinnehmen müssen. Dieser Fokus auf die Verteidigung hatte auch bei dieser EM zunächst einige Kritiker auf den Plan gerufen, die jetzt allerdings mit gleich vier eigenen Toren abserviert wurden.

England bei der Fußball-EM
:160 000 Pints in der Luft

England feiert mit dem 4:0 gegen die Ukraine den ersten EM-Halbfinaleinzug seit 1996 - und freut sich auf das Heimspiel gegen Dänemark vor 60 000 Zuschauern.

Von Sven Haist

Mehr Treffer erzielte England bei einer Welt- und Europameisterschaft überhaupt bloß in der WM-Vorrunde vor drei Jahren: beim 6:1 über Fußballzwerg Panama. Auch die leise geäußerten Zweifel an der Form des Weltklassespielers Kane: zerbröselt, spätestens nach dessen Doppelpack im Viertelfinale.

Nach 212 Sekunden traf Kane mit dem Fuß, später per Kopf (50.) - wie Harry Maguire (46.) und der eingewechselte Jordan Henderson (63.). Die drei Kopfballtore, zwei davon nach Freistoß und Eckball, befriedigten alle Schwarzmaler, die diese grundsätzliche Stärke des Teams in diesem Turnier bis dahin nicht ausreichend gewürdigt fanden. Wie auch der wunderbar herauskombinierte Führungstreffer alle Nörgler besänftigte, die behauptet hatten, dass es der Auswahl an fußballerischer Schaffenskraft fehle.

Den größten Jubelsturm bei den Fans entfachte der Treffer des Abwehrchefs Maguire, mit dessen Dickschädel können sie sich offensichtlich am meisten identifizieren. Dem Koloss ist auf der Insel ein eigenes Lied gewidmet, in dem ihm - nicht ganz zu Unrecht - unterstellt wird, sowohl Wodka als auch dem Jägermeister überhaupt nicht abgeneigt zu sein.

Die trinkfreudigen Briten sehen ihn deswegen als Gleichgesinnten an, der mit ihnen bestimmt um die Häuser gezogen wäre, würde er nicht gerade Fußball spielen. Sogar der fürs Resultat irrelevante Abschlusstreffer durch Henderson trug einen nicht zu unterschätzenden Wert in sich: dass jetzt aber mal wirklich alles möglich ist, wenn sogar der Mittelfeldmann sein erstes Tor im 62. Länderspiel erzielt.

Wie eine mehrköpfige Jubelhydra: Englands Spieler feiern ihren dritten Treffer im Viertelfinale gegen die Ukraine. (Foto: Ettore Ferrari/AFP)

"Now you're gonna believe us!", richtete sich der Telegraph an die Nation, wobei weniger die Zeitung als Trainer Southgate in seiner viereinhalbjährigen Amtszeit stets den Eindruck vermittelt hatte, dass die Landsleute dem Team und auch Southgate sehr wohl über den Weg trauen dürfen. Von Genugtuung wollte Southgate nach dem eindrucksvollen Sieg jedoch bewusst nichts wissen.

"Wir haben weiterhin einen langen Weg vor uns und sind nicht zufrieden", mahnte er. Der heutige Abend sei für alle "sehr erfreulich", aber schon vor Abpfiff habe er "an die nächste Herausforderung" gedacht. Die Boulevardblätter Sun und Mirror ließen sich das Wortspiel dennoch nicht nehmen, das Team gemäß dem erreichten Semifinale als "Semi Gods" zu glorifizieren: als Halbgötter.

Trotz des plötzlich gottähnlichen Ansehens muss England auch jetzt wieder - wie bei all den zurückliegenden, jeweils vorzeitig beendeten Turnieren seit 1966 - die Heimreise antreten. Nach dem triumphalen Erfolg in Rom jedoch ausnahmsweise mal ohne Schimpf und Schande. Nach dem Kurztrip in die Ewige Stadt, von der sich die Sun mit einem "Harrysvederci!" verabschiedete, sind nun alle weiteren Spiele im Nationalstadion Wembley angesetzt.

Und zwar erstmals vor rund 65 000 Zuschauern, was insofern bemerkenswert ist, weil das in etwa jener Summe entspricht, um die sich die Corona-Fälle in Großbritannien in den vergangenen sieben Tagen erhöht hat: von ungefähr 100 000 auf 165 000.

Bevor sich die Feierlichkeiten am Piccadilly Circus am Wochenende endgültig ihren freien Lauf brachen, ging die Polizei zur vorgerückten Stunde dazwischen. Die Fans mussten die bevölkerte Statue verlassen, die unteren Sitzplätze um den Brunnen herum freigeben. Stattdessen sicherte eine Gruppe an Einsatzkräften die Attraktion ab. Zurück blieben leere Bierbecher.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Fußball-EM
:Furiose Engländer stürmen ins Halbfinale

Spielt so ein Titelfavorit? England lässt der Ukraine beim 4:0 keine Chance - im Halbfinale wartet nun Dänemark.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: