Das erste Turniertor seit der WM 1998 bleibt Schottland nach dem 0:0 gegen England am zweiten EM-Spieltag der Gruppe D weiter verwehrt, aber das Unentschieden gibt den Männern um Nationaltrainer Steve Clarke die realistische Chance, mit einem Sieg über Kroatien erstmals in der Historie die Vorrunde bei einem Großereignis zu überstehen. Bei typisch britischem Inselwetter - stürmischer, nasskalter Nieselregen - entwickelte sich auch ein typisch britisch geführter, offener Schlagabtausch: hart, teilweise bis an die Grenze des Erlaubten. Die rastlose Begegnung vor 22 500 Zuschauern lieferte Torchancen für beide Nationen, das schnelle Spiel in die Spitze weckte Erinnerungen an das alte Kick-and-Rush, die Urform des Fußballs. Durch das Remis ist England mit vier Zählern aufgrund der schlechteren Tordifferenz hinter die punktgleichen Tschechen auf den zweiten Platz zurückgefallen.
Schon seit der Auslosung im November fieberten die britischen Medien dem Inselklassiker entgegen. Die Times fertigte acht Sonderseiten zum Spieltag an, der Titel: "Auld Enemies!", die alten Feinde. Damit war an sich fast alles gesagt in der Hinführung zum 115. "Battle of Britain", dem ältesten Länderspiel in der Fußball-Historie. Zuletzt trafen beide in der Qualifikation für die WM 2018 aufeinander. In der ersten Partie, im Herbst 2016, hatte England souverän mit 3:0 im Wembley gesiegt, was dem zu dieser Zeit als Interimscoach tätigen Gareth Southgate die Beförderung zum dauerhaften Nationaltrainer der Three Lions einbrachte. Ein Jahr später hätte Schottland um ein Haar (besser: um eine Sekunde) gewonnen, als Leigh Griffiths in der Schlussphase zwei geniale Freistoßtore erzielte - bevor Englands Kapitän Harry Kane mit der letzten Aktion des Spiels das 2:2 erzielte. Am meisten im Gedächtnis verankert hat sich jedoch Englands 2:0 über Schottland auf dem Weg zum Gruppensieg in der Vorrunde der Heim-EM 1996.
Bei der EM 1996 traf Paul Gascoigne - und provozierte mit einem ganz speziellen Jubel
Die Fußballlegende Paul Gascoigne erzielte damals ein ikonisches Tor für England: Er lupfte den Ball am Strafraum mit links über seinen Gegenspieler, um dann volley mit dem rechten Fuß abzuschließen. In ähnlicher Weise hat sich Gascoignes furioser Jubel eingeprägt. An der Torauslinie legte er sich auf den Rücken und ließ sich von den Mitspielern den Inhalt einer Getränkeflasche in den Mund spritzen - als Parodie eines Trinkgelages mit dem Team bei der Turniervorbereitung in Hongkong, das in den Medien zuvor Empörung ausgelöst hatte. Sein Geniestreich versetzte die englischen Fans in einen Freudentaumel; sie fingen an, die Turnierhymne "Football's coming home" ins Herz zu schließen.
Auch bei der Wiederauflage am Freitagabend durfte der Fußballsong nicht fehlen. Die Liedzeilen verbinden den Schmerz und die Trauer mit der Hoffnung und der Begierde, dass Träume wahr werden. Die circa 3000 schottischen Anhänger sehnten eine Sensation in London herbei, wissend, dass Sensationen eher selten geschehen. Aber in einem Spiel lässt sich selbst das viel talentiertere England schlagen. Der Talisman der Bravehearts ist ihr Löwenherz, dieser unglaubliche Wettkampfspirit, der auch am Freitagabend als Außenseiter nichts anderes zuließ, als zu kämpfen. Und das gelang beeindruckend.
Die Schotten versuchten in jedem Zweikampf die Emotionen zu befeuern. In der sechsten Minute räumte John McGinn im Mittelfeld den Vorzeigestürmer Kane ab, kurz zuvor hatte Ché Adams für Schottland die erste Chance. Seinen Schuss kratzte Englands Abwehrstratege John Stones für seinen wohl geschlagen gewesenen Torwart Jordan Pickford von der Torlinie. Auf der anderen Seite scheiterte Stones per Kopf am Pfosten nach einem Eckball in der zwölften Minute. Die Engländer agierten vorwiegend mit mehr Finesse, eiserne Disziplin hielten die Schotten dagegen. Und setzten ihre Vorstöße über die starke linke Seite, auf der Kapitän Andrew Robertson (FC Liverpool) und Kieran Tierney (FC Arsenal) agieren. Ihre Zuspiele suchten Sturmkante Lyndon Dykes (Queens Park Rangers), der mit geschicktem Körpereinsatz oftmals Freistöße in Strafraumnähe herausholte. Nach einer halben Stunde scheiterte Rechtsaußen Stephen O'Donnell mit seiner Direktabnahme am hervorragend reagierenden Pickford.
Die Schotten erwiesen sich in der ersten Halbzeit tatsächlich als ebenbürtig - angestachelt vom zwölften Mann, der Tartan Army, die trotz der personellen Unterlegenheit im Stadion fast eine Heimspielatmosphäre fürs eigene Team generierte. Der eigene Stolz und das Verlangen, es sich selbst beweisen zu wollen, waren ein mächtiger Antreiber für Schottland.
Kapitän Harry Kane hat nur 19 Ballkontakte bis zur 74. Minute - und wird erneut ausgewechselt
Die hitzige Auseinandersetzung ging an den Engländern nicht spurlos vorüber. Die im Schnitt 25 Jahre und 31 Tage alte Startelf - die jüngste in Englands Historie bei einem Großereignis - agierte sichtbar beeindruckt; nur Raheem Sterling, Stones und Kane aus der Startelf hatten schon mal gegen Schottland gespielt. Die feinen Offensivfüße taten sich schwer in den Reibereien mit ihren physisch überlegenen Gegenspielern. Erstmals seit dem torlosen Remis im Freundschaftsspiel gegen Deutschland im November 2017 brachten die Three Lions im heimischen Wembley in der ersten Halbzeit keinen Schuss aufs Tor zustande. Sinnbildlich waren die lediglich 19 Ballberührungen für Mittelstürmer Kane (die wenigsten aller Spieler), bis er in der 74. Minute vorzeitig für Marcus Rashford ausgewechselt wurde - wie schon im Auftaktspiel, als er auch schon keinen Schuss aufs Tor abgab.
Im Gegensatz zu den Engländern setzten die Schotten auf Lebenserfahrung. Mindestens 24 Jahre alt war jeder - bis auf Youngster Billy Gilmour vom FC Chelsea. Der 20-Jährige stand in seinem dritten Länderspiel erstmals für Schottland von Beginn an auf dem Platz, trumpfte mit seiner Ballsicherheit auf und überragte das nach dem Sieg gegen Kroatien (1:0) euphorisch gefeierte englische Mittelfeld.
Auch nach der Halbzeitpause schaffte es Schottland häufig, sich aus der Bedrängnis zu befreien. Zwar kam England zu einigen Abschlüssen, aber die beste Gelegenheit vergab Dykes mit seinem Drehschuss, den Englands Reece James vor der Torlinie parierte (61.). Mit jeder Minute stieg der schottische Glaube, das Unentschieden über die Zeit zu retten. In einer ereignislosen Schlussphase wäre Adams beinahe sogar noch der Siegtreffer gelungen - wodurch das schottische Warten aufs erste Turniertor seit der WM 1998 vorüber gewesen wäre. Der damalige Torschütze hieß: Craig Burley.