Felix Brych bei der EM 2021:Abpfiff in eigener Sache

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Halbfinale der Fußball-Europameisterschaft 2021 zwischen Italien und Spanien. Italiens Marco Verratti (l.) und Federico Chiesa protestieren bei Felix Brych. (Foto: Laurence Griffiths/dpa)

Eine ergreifende Geste von Giorgio Chiellini, Jubel von der englischen Presse: Der deutsche Schiedsrichter Felix Brych tritt würdig von der europäischen Bühne ab.

Von Sven Haist, London

Ein solches Kompliment dürfte selbst Felix Brych in seiner langen Karriere als Schiedsrichter bislang nicht erhalten haben. Nach dem Ende der Verlängerung des EM-Halbfinales zwischen Italien und Spanien beobachtete Brych mit seinen Assistenten Mark Borsch und Stefan Lupp die Vorbereitungen der Nationalteams auf das Elfmeterschießen, als Italiens Kapitän Giorgio Chiellini allein auf den Unparteiischen zulief. In einer ergreifenden (im Fernsehen nicht zu sehenden) Geste bedankte sich der große Abwehrrecke Chiellini, 36, der mittlerweile genau 750 Schlachten im Profifußball geschlagen hat, bei Brych für die Spielleitung. Sein Lob sah mehr nach einer Verneigung vor dem Deutschen aus als nach einem Kompliment, und das dazu noch im Wembley, der Basilika unter den Stadien. Einen würdevolleren Abgang hätte sich Brych nicht wünschen können.

Mit seinem fünften Einsatz bei dieser EM - zwei Gruppenspielen, je einem Achtel-, Viertel- und Halbfinale, so vielen Partien, wie keinem anderen Referee je zugeteilt wurden - hat sich Brych am Dienstagabend von der europäischen Bühne verabschiedet, die nach seiner Premiere bei einem Qualifikationsspiel zur Europa League 2007 stets auch seine gewesen war. Das Endspiel am Sonntag übernimmt sein niederländischer Kollege Björn Kuipers. Offiziell steht Brych, der mit 45 Jahren zwar nicht die nationale, aber internationale Altersgrenze erreicht hat, bis Jahresende auf der Liste des Fußball-Weltverbands Fifa. So könnte er etwa im Herbst das Finale der Nations League pfeifen oder einige weitere Europapokalspiele. Nur wären diese Ansetzungen nicht mehr zu vergleichen mit den Höhepunkten seiner Laufbahn, zu denen jetzt sechs prestigeträchtige Turniere zählen (Olympische Spiele 2012, Konföderationen-Pokal 2013, WM 2014, EM 2016, WM 2018, EM 2021) - und 64 Spiele in der Champions League, ein weiterer Rekord.

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Zur Einordnung von Brychs Karriere eignet sich kaum jemand besser als der DFB-Lehrwart Lutz Wagner, 58, der Brych stets als fachlicher Begleiter unterstützt hat: "Ein Schiedsrichter kann kein Tor schießen und keine Ehrenrunde laufen. Insofern ist die Zustimmung von Chiellini die höchste Ehre, die ihm erwiesen werden konnte", sagt Wagner der SZ am Telefon, "zumal zu diesem Zeitpunkt nicht klar war, dass Italien gewinnen würde. Hinterher lobt es sich als Sieger nämlich immer einfacher."

In fast gleichem Maße würdigten die Medien die fehlerfreien Entscheidungen des Referees. Die Times schrieb, dass es schön wäre, wenn der "fantastische Brych" weiter in London bleiben könnte, um "vielleicht drei bis vier Jahre" in der Premier League auszuhelfen, in der es keine Altersbeschränkung gibt. Lutz Wagner sagt: "Wir haben in diesem Spiel einen typischen Brych gesehen: großzügig in der Auslegung. Aber wenn es darauf ankommt, ist er unnachgiebig und scheut keine Konsequenzen. Felix geht nicht auf den Platz, um der Beliebteste zu sein, sondern um seine Sache gut zu machen."

"Für mich gehört Felix auf eine Stufe mit den ganz großen Schiedsrichtern", sagt Lutz Wagner

Bereits nach knapp einer Minute bewies Brych sein Gefühl fürs Spiel, indem er ein Foul nutzte, um mit klarer Gestik seine Präsenz zu demonstrieren. Mit der einzigen gelben Karte in der regulären Spielzeit für den Spanier Sergio Busquets habe er nach der Halbzeitpause dann "ein klares Zeichen" gesetzt, erklärt Wagner, das "genau richtig" war, weil der weitere Verlauf demonstriert hätte, dass die Verwarnung auch "Signalwirkung" entwickelt habe. Trotzdem spitzte sich die Partie in der Schlussphase zu, ein falscher Pfiff hätte fatale Konsequenzen haben können - wie womöglich in der 90. Minute, als Chiellini den Ball im Strafraum mit der Hand berührte. Aus kurzer Entfernung legte sich Brych sofort fest, nicht einzugreifen. "Seine große Stärke ist es, die kritischen Szenen zu antizipieren", findet Wagner: "Dadurch kann Felix seine Entscheidungen meistens aus einer ruhenden Position treffen, in der die Beobachtungsgabe viel höher ist als im Laufen. So hat er gesehen, dass der Spieler sich mit der Hand auf dem Boden abstützt, bevor ihm der Ball an den Arm springt."

Seit seinem Debüt in der zweiten Bundesliga vor zwei Jahrzehnten hat der promovierte Jurist aus München genau 300 Bundesliga-Partien geleitet, 96 Europapokalduelle und 55 Länderspiele, darunter zwei Finals im DFB-Pokal (2015, 2021) sowie Endspiele in der Europa League (2014) und in der Champions League (2017). In diesem Zeitraum ist Brych, der mit seinem fälschlicherweise gegebenen Phantomtor in Hoffenheim 2013 und der missglückten WM 2018 auch einige Rückschläge verkraften musste, vier Mal zum Referee des Jahres in Deutschland gewählt worden - sowie 2017 als erst dritter Deutscher nach Aron Schmidhuber und Markus Merk zum Weltschiedsrichter. "Vor seiner Leistung kann ich nur den Hut ziehen", sagt Wagner. "Natürlich sind ihm auch Fehler passiert. Aber wer auf diesem Niveau behauptet, keine falschen Entscheidungen getroffen zu haben, hat nie gepfiffen. Für mich gehört Felix auf eine Stufe mit den ganz großen Schiedsrichtern."

Nach dem Abpfiff des Elfmeterschießens, mit dem er gleichzeitig in gewisser Weise seine internationale Laufbahn beendete, verließ Felix Brych an der Seite seines Gespanns zügig das Spielfeld. Selbstverständlich hätte er die Atmosphäre im Stadion noch auf sich wirken lassen können (und vermutlich hätten das die meisten seiner Kollegen auch getan), aber ihm ging es nie wirklich um sich. Diesem Grundgedanken ist Brych nun selbst bei seinem eigenen Abschluss treu geblieben. Er hat die Spieler in den Mittelpunkt gerückt - und hat sich so verhalten, wie das ein guter Schiedsrichter immer tun sollte: unauffällig.

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