Eishockey-WM:Türen und Fenster vernagelt

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  • Dem deutschen Team gelingt gegen die Slowakei nach einer Willensleistung der beste WM-Start seit 89 Jahren.
  • Mit dem 3:2-Sieg ist sie nun nahezu fürs Viertelfinale und für Olympia 2020 qualifiziert.

Von Johannes Schnitzler, Kosice

64 Jahre alt ist Franz Reindl mittlerweile, das Haar ist silberweiß. Der Präsident des Deutschen Eishockey-Bundes (DEB) hat viel erlebt. Er weiß, dass Triumph und Tragödie Tür an Tür wohnen. Keiner gerät so schön in Mitleidenschaft, keiner versteht es, Emotionen in so blumige Worte zu wickeln wie der globale Netzwerker aus Garmisch-Partenkirchen. Am Mittwochabend nach dem 3:2-Sieg gegen WM-Gastgeber Slowakei, den Leon Draisaitl 27,4 Sekunden vor Schluss herausgeschossen hatte, sagte Reindl: "Das war ein Orkan, der über uns hereingebrochen ist. Da musste man alle Türen und Fenster zunageln, aber wir haben es überstanden."

Und das war noch untertrieben.

Die Slowaken hatten das vielleicht schwierigste Auftaktprogramm bei dieser 83. Eishockey-Weltmeisterschaft. Gegen die USA gelang der Mannschaft von Craig Ramsay ein 4:1-Überraschungssieg, gegen Finnland (2:4) und Kanada, im bislang emotionalsten Spiel dieser WM, setzte es Niederlagen - das 5:6 gegen die Ahornblätter fiel eine Sekunde vor Schluss. Die Deutschen dagegen: Großbritannien, Dänemark, Frankreich - drei Spiele, drei Siege. Wie zwei Expresszüge auf parallelen Gleisen rasten die beiden Teams aufeinander zu, um sich in der Mitte des Spielplans zu begegnen. Wer schon mal bei voller Fahrt den Kopf aus dem Fenster gestreckt hat, wenn ein anderer Zug vorbeidonnert, weiß, welche Wucht einen dann trifft.

"Wir wissen, was uns erwartet", hatte Kapitän Moritz Müller vorher gesagt. Was ihnen dann tatsächlich widerfuhr, beschrieb er so: "Bei Olympia waren auch ein paar Thriller dabei. Aber so ein Comeback wie heute habe ich selten erlebt." Markus Eisenschmid (59.) und NHL-Profi Draisaitl mit einem Solo drehten ein Spiel, in dem die deutsche Mannschaft am Ende die glücklichere war. "Aber auch der Glücklichere muss die Tore erst mal schießen", sagte Reindl.

"Wie eine Katze, wie ein Fels in der Brandung"

Die Deutschen hielten dem slowakischen Dauerdruck bis ins zweite Drittel Stand, mit Glück bei zwei Pfostenschüssen und einem grandiosen Mathias Niederberger für den angeschlagenen NHL-Profi Philipp Grubauer im Tor. "Mathias war überragend. Wie eine Katze, wie ein Fels in der Brandung", deklamierte der Aphoristiker Reindl. Mit ihrem erst vierten Torschuss gingen die Deutschen dann in Führung. Eisenschmid sah vor dem Tor den freien Marc Michaelis, der seinen ersten WM-Treffer erzielte (24.). Danach nahm der slowakische Orkan an Zerstörungskraft zu. Erst Kapitän Andrej Sekera (29.), Teamkollege Draisaitls in Edmonton, dann Libor Hudacek (30.) übersetzten eine doppelte Überzahl in eine 2:1-Führung und verwandelten das Stadion in einen brausenden Windkanal. "Die Slowaken waren in den ersten beiden Dritteln ganz klar besser", sagte Bundestrainer Toni Söderholm: "Aber wenn sich die Jungs am Ende so zurückkämpfen, kann man sie nur loben. Das war echt stark." Drei Minuten vor dem Ende nahm er Niederberger vom Eis, um mit sechs Feldspielern die eine, die letzte Chance zu suchen. Und Eisenschmid fand sie. Der 24-Jährige befolgte den Rat seines Trainers ("Augen zu, hau die Dinger rein!") und haute das Ding 112 Sekunden vor dem Ende zum 2:2 unter die Latte. Und als die Slowaken wenigstens noch auf die Verlängerung hofften, nutzte Draisaitl den 1,92 Meter großen Erik Cernak als Sichtblende und versenkte, mit einer einzigen Bewegung, wie beiläufig, den Puck im Netz.

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"Diese Effektivität ist unglaublich", staunte Reindl. Sein Siegtreffer entlockte selbst dem Stoiker Draisaitl ein Lächeln. "Im Rest des Spiels habe ich nichts wirklich Gutes hinbekommen. Da habe ich mir gedacht: Eine gute Aktion muss ich noch irgendwie zustande bringen." Sein Tor widmete der 23-Jährige, der in der NHL bereits als Superstar verehrt wird, dem Team: "Das war eine überragende Mannschaftsleistung."

Einspruch erhob ausgerechnet der Trainer. "Wir hätten heute gemeinsam besser spielen müssen", fand Söderholm: "Es war eine klassische Situation, in der die Stürmer sagen: ,Hey, pass mir die Scheibe', und die Verteidiger sagen: ,Aber du bist nicht frei.' Und dann geht es hin und her." Yannic Seidenberg bestätigte das: "Phasenweise hatten wir das Spiel nicht mehr unter Kontrolle. Wir waren zu weit auseinander, die Stürmer haben die Schuld auf uns Verteidiger geschoben, wir auf die Stürmer. Wie das halt so ist, wenn es nicht läuft. Wichtig ist, dass man wieder zusammenrückt." Dass Draisaitl enge Spiele mit einer einzigen Aktion drehen könne, "das wissen wir". Auch Söderholm war beeindruckt: "Wenn Leon mit Zug aufs Tor zu läuft, kriegst du die Scheibe nicht mehr zurück. Dann kannst du nur hoffen, dass er vorbei schießt. Aber wir sollten nicht zu sehr auf ihn vertrauen." Die Verantwortung für die Unordnung nahm der Bundestrainer auf sich: "Ich habe die Jungs heute nicht gut genug vorbereitet. Jetzt sehe ich besser aus."

Die Freude über den vierten Sieg im vierten Spiel und den besten WM-Start seit 1930 trübte die Sorge um Moritz Seider. Der 18-Jährige, eine der auffälligsten Erscheinungen bei diesem Turnier, musste nach einem Foul von Ladislav Nagy in die Kabine geführt werden mit Verdacht auf Gehirnerschütterung. "Der Check war bös, ganz bös", sagte Reindl. Nagy hatte Seider von hinten mit dem Kopf gegen die Bande gerammt, der Verteidiger konnte den Slowaken nicht kommen sehen. Die Szene und die Zwei-Minuten-Strafe für Nagy brachten Söderholm regelrecht in Rage: "Wenn das keine große Strafe ist, was dann? Moritz hat ja nicht einmal die Scheibe. Der Kerl liegt fast bewusstlos auf dem Eis! Bei so einer Szene kann wirklich alles passieren. Man muss die Spieler schützen, um Gottes willen!" Der DEB gab am Donnerstag bekannt, Seider sei "soweit okay", er werde aber weiter untersucht. NHL-Verteidiger Korbinian Holzer wünschte Seider das Beste: "Moritz wäre ein bitterer Ausfall. Er hat wirklich super gespielt bisher."

Nach diesem Erfolg, der die vorzeitige Qualifikation für Olympia 2022 und die so gut wie sichere Teilnahme am WM-Viertelfinale bedeutet, freuten sich Team und Trainer über zwei spielfreie Tage. Stille nach dem Sturm. "Zum Glück", sagte Draisaitl. Holzer meinte: "Ist doch geil. Jetzt können wir ein bisschen locker durch die Hose atmen." Wolkiger hätte es auch Franz Reindl nicht formulieren können.

© SZ vom 17.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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