Kimberly Drewniok richtete ungewöhnliche Worte in ihrem Schreiben an ihre Mitspielerinnen: "Liebe Volleyballgemeinde", begann die Diagonalangreiferin, "das Leben ist eine Abfolge von Momenten, von Kapiteln, von denen jedes einzelne uns formt, uns lehrt und uns zu den Menschen führt, die wir zu werden bestimmt sind. Heute schlage ich die Seite eines unglaublichen Kapitels meines Lebens um - meine Zeit bei der deutschen Nationalmannschaft."
Am 21. Mai war das, vor genau vier Monaten. Damals endete die Nationalmannschaftskarriere von Drewniok, geboren in Balve im Sauerland, ausgebildet beim RC Sorpesee und in der Kaderschmiede VC Olympia Berlin. Schluss mit 25, in einem Alter also, in dem andere erst emporsteigen - nach sieben Jahren und 85 Länderspielen. Das dachte Drewniok jedenfalls. Sie habe diesen Beschluss nicht leichtfertig gefasst, vielmehr sei er "aus dem Verstehen, dem Wachsen und dem Hören auf die innere Stimme meines Herzens geboren", schrieb Drewniok noch - und schloss ihren Brief "mit Dankbarkeit, eure immer lächelnde KD".
Volleyballer Tille im Gespräch:"Ich war nie derjenige, der der Norm entsprach"
Ferdinand Tille, einst bester WM-Libero und eine der prägenden Figuren auf seiner Position, hört auf. Ein Abschiedsgespräch über die Hassliebe zu seiner Rolle, Bruderstolz, Savoir-vivre, die rumänische Trainerschule - und den gelben Schnürsenkel.
Drewniok wollte mehr Freiheit und Selbstbestimmung, nicht mehr den Sommer wie üblich mit dem Nationalteam in Trainingslagern oder bei der kräftezehrenden, wochenlangen, über mehrere Kontinente verteilten Nations League verbringen. Sie wünschte sich mehr Zeit für andere Dinge, die ihr am Herzen liegen.
Kurz nach ihrem Rücktritt hat ihre innere Stimme die 1,88 Meter große Diagonalspielerin nach Bali geführt, sie besuchte dort Kinderhilfsprojekte, die dem Nachwuchs ermöglichen, auch in großer Armut Zugang zum Volleyball zu finden. "Let's Keep The Ball Flying", heißt das Projekt, für das sie sich ehrenamtlich engagiert, "Lasst uns den Ball in der Luft halten". Drewniok spielte auf Bali mit den Kindern Volleyball, sie sah das Leuchten in ihren Augen. "Ich war frei, es fühlte sich so richtig an. Das ist meine Bestimmung", schrieb sie auf Instagram. Auch in ihrem Heimatverein RC Sorpesee engagiert sie sich, organisierte im Sommer einen Beachvolleyballtag für Kinder. Drewnioks Familienwurzeln liegen in Togo, Westafrika, sie möchte ihr Projekt auch dort voranbringen. Diese Lebensfreude, das Leichte, das hat sie schon immer im Blut gehabt.
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Am 4. September klingelte dann ihr Handy, Bundestrainer Vital Heynen war dran - und bat sie um Hilfe. Während der EM im August hatten sich Hannah Orthmann und Anne Hölzig schwer verletzt, es war klar, dass Heynen in der Olympia-Qualifikation in Polen auf sie verzichten muss. Drewniok, die im Klubvolleyball auch nächste Saison bei Sariyer Belediyespor in der Türkei spielt, überlegte ein paar Stunden, blättere ein Kapitel zurück - und sagte zu, "für die Mädels, die mir so am Herzen liegen".
Nun ist Drewniok also in Lodz, ziemlich außer Puste nach bereits vier absolvierten Spielen. An diesem Donnerstag ist frei, ein Glück, findet Drewniok: "Ich brauche gleich erst mal ein bisschen Me-Time in der Sonne." Zeit für sich also. Die vergangene Woche war anstrengend fürs deutsche Team, vier Spiele in fünf Tagen. Sie haben sie alle gewonnen, 3:0 gegen Thailand, 3:1 gegen Kolumbien, jeweils 3:2 gegen Korea und Slowenien. Am Mittwoch, gegen Slowenien, hatte die Rückkehrerin Drewniok erstmals keinen guten Tag im Angriff, aber wie soll das alles auch auf Knopfdruck funktionieren - immerhin hat sie seit Mai kaum mal einen Volleyball in der Hand gehabt. Für Heynen ist sie dennoch enorm wichtig. "Es ist schon eine Challenge für mich hier, aber ich will dem Team helfen mit meiner positiven Energie", sagt sie.
Drewniok geht an ihre körperlichen und mentalen Grenzen
Am Mittwoch haben andere die deutschen Volleyballerinnen gerettet, allen voran Camilla Weitzel, die so starke Blockerin, und Außenangreiferin Lina Alsmeier. 5:10 hatte es im fünften Satz schon gestanden, als die DVV-Auswahl acht Punkte in Serie gewann. Bei einer Niederlage wären Drewniok und Co. fast schon gescheitert im Olympia-Qualifikationsturnier, dessen Modus sich für die Deutschen anfühlen muss wie eine Achttausenderbesteigung: Jeder gegen jeden im Achterfeld, nur die beiden Besten kommen weiter. Und die Schlüsselspiele kommen erst, wie die Partie gegen Gastgeber Polen am Freitag. Am Samstag und Sonntag folgen zum Schluss die Duelle gegen den WM-Dritten Italien und Olympiasieger USA. Zwei Siege in diesen drei Spielen sind fast schon Pflicht.
Das Gute ist: Falls es nicht klappt mit dem Ticket für Paris, hat Heynens Mannschaft noch eine Chance - im kommenden Jahr über die Weltrangliste. Jeder Sieg zählt also bei diesem Turnier. Auch Drewniok, die gerade an ihre körperlichen und mentalen Grenzen geht, weiß das. "Ich muss wieder hineinfinden in das Spiel, meinen Rhythmus finden", sagt sie: "Aber das Schöne ist nach diesen vier Spielen: Wir dürfen unseren Traum weiterhin leben."
Volleyball sei ihre Brücke, mit anderen Menschen zusammenzukommen, neue Kulturen kennenzulernen und um die Welt zu reisen, schrieb Drewniok im Mai noch in ihrem Brief. Insofern hat sie mit ihrer Rückkehr ins Nationalteam - auch wenn vielleicht nur für eine Woche - ihrem Sport etwas zurückgegeben. Und wer weiß, was ist, sollten sie sich tatsächlich qualifizieren. Gut möglich, dass die ersten Olympischen Spiele für deutsche Volleyballerinnen seit 20 Jahren auch Kimberly Drewniok dazu animieren, ihre Rückkehr bis Sommer 2024 zu verlängern.