Drama um Hammerwerferin Betty Heidler:Nächster Schildbürgerstreich der Kampfrichter

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Eine große Weite, die plötzlich verlorengeht, ein Kampfrichter, der um sein Leben läuft: Lange sieht es so aus, als koste ein Computerfehler Hammerwerferin Betty Heidler ihre Bronzemedaille - nicht der erste Fauxpas bei diesen Olympischen Spielen. Erst nach einer Ewigkeit darf Heidler doch noch jubeln.

Jürgen Schmieder, London

Betty Heidler lief am Ende eine Ehrenrunde. Und danach gleich noch eine. Vorsichtshalber, nicht dass die erste nicht zählt, irgendwo im System steckt oder der nächsten Ehrenrunden-Läuferin gutgeschrieben wird. Was ist bei diesen Olympischen Spielen nicht alles schon passiert: Da wurde eine Siebenkämpferin disqualifiziert, weil die Kampfrichter ihre Schuhe verwechselt hatten. Da wurde ein Boxer zum Sieger erklärt, obwohl er sechsmal am Boden gelegen war. Da wurde beim Fechten diskutiert, wie lange eine Sekunde dauert.

Ungläubige Freude: Betty Heidler gewinnt doch noch Bronze. (Foto: REUTERS)

Nun also der nächste Schildbürgerstreich der Londoner Kampfrichter, diesmal beim Hammerwurf der Frauen. Betty Heidler hatte das Sportgerät sehr weit geschleudert, der Kampfrichter hatte gemessen - aber irgendwo zwischen Messen und Speichern und Anzeigen ging die Weite im System verloren. Insgesamt 14 Kampfrichter begaben sich auf die Suche: im System, auf Zetteln, mit Maßbändern. Und tatsächlich: Die Weite tauchte wieder auf, sie betrug 77,12 Meter. Betty Heidler gewann die Bronzemedaille.

"Es war ein Fehler in der Weitenmessung. Ich wusste zeitig, dass der Wurf im System drin war. Es musste nur noch offiziell werden", sagte Heidler nach dem Wettkampf: "Jetzt ist alles gut. Ich freue mich so dermaßen, dass die Briten alles möglich gemacht haben, um den Fehler zu finden. Jetzt brauche ich keine Ruhe, sondern werde ordentlich feiern."

Ein bisschen Bangen musste sie dann doch noch. Die Chinesen legten Protest ein, es wurde noch einmal nachgemessen und die Weite um einen Zentimeter auf 77,12 nach unten korrigiert.

Der Mensch ist inzwischen zu vielen Dingen fähig, er sendet Raketen zum Mars und denkt sich Sachen wie das Internet aus - aber es gehört offenbar zu den schwierigsten Aufgaben der Menschheit, einen Leichtathletik-Tag bei diesen Olympischen Spielen ohne skurrilen Zwischenfall durchzuführen. "So etwas habe ich noch nie erlebt", sagte Heidler danach. Kollegin Kathrin Kaas, die mit persönlicher Bestleistung von 76,05 Metern auf Platz fünf landte, ergänzte: "Falsche Weiten, zu kurz gemessen, das hat man alles schon gesehen. Aber so etwas noch nie - und das bei Olympischen Spielen."

Wäre es nicht so ernst gewesen, es ging schließlich um eine Olympia-Medaille, dann hätten diese 90 Minuten durchaus zu einem herausragenden absurden Theater getaugt. Hauptdarsteller waren: Betty Heidler, ein um sein Leben laufender Kampfrichter und ein um sein Leben rechnender Computer. Es gab zahlreiche drollige Nebendarsteller, die im Laufe der Geschichte noch erwähnt werden.

Der erste Akt ist recht schnell erzählt: Heidler zeigte drei durchwachsene Würfe und musste als Achtplatzierte darum bangen, überhaupt noch drei zusätzliche Versuche zu bekommen. "Ich hätte nicht gedacht, dass man mit 73,90 Metern bangen muss, aber das war heute so", sagte Heidler danach. Auch der vierte Versuch war nicht weit genug. Derweil lag Klaas auf dem dritten Rang.

Dann kam der fünfte Wurf. Heidler schleuderte das Sportgerät weit. Sehr weit sogar. Sie ging aus dem Ring und grinste, der Kampfrichter lief zur Einschlagstelle und wollte messen. Nun hatten die Kampfrichter am Ring jedoch schon Zalna Marghieva zu ihrem Versuch aufgerufen, die Zeit lief. Also warf Marghieva - und der noch messende Kampfrichter sah, dass da ein Hammer in seine Richtung geflogen kam und rannte sehr schnell zur Seite.

"Er hatte die Weite aber schon gemessen und sie an das System geschickt", sagte Heidler. Keiner wusste, wie weit Heidler geworfen hatte, ihr wurde der Wert von Marghieva zugeschrieben - die vier Meter kürzer geworfen hatte. "Ich wollte schon weitermachen, doch dann hat mir mein Trainer geraten, dass ich protestiere. Das habe ich dann auch gemacht."

Zielvorgaben für Olympia
:Wer wie viele Medaillen gewinnen sollte

Laut Zielvereinbarung des DOSB und der Fachverbände sollten deutsche Athleten bei den Olympischen Spielen in London 86 Medaillen holen. Einige Sportarten konnten die Erwartungen gar nicht erfüllen, andere scheiterten knapp. Im Überblick.

Nun wurde es absurd: Es eilten sechs Leute herbei, drei mit Sakkos und lustigen Hüten, einer mit rotem Poloshirt und Headset, zwei in pinkem Helfershirt. Wichtig sollte eine ältere Frau mit Sakko und lustigem Hut werden, sie sah ein wenig aus wie Miss Sophie aus dem Sketch "Dinner for One".

"Die war voll nett zu mir und hat mich andauernd beruhigt", sagte Heidler danach. Zwischen nett sein und beruhigen starrte Miss Sophie vor allem auf einen Zettel, der an einem Clipboard angebracht war. Der Mann mit rotem Poloshirt diskutierte abwechselnd mit Heidler, einem Helfer im pinken Shirt, der auf einen Computer starrte, und der Person, mit der er am Headset verbunden war.

Der Wettbewerb lief übrigens inzwischen weiter, ganz nebenbei gewannen am anderen Ende des Stadions Björn Otto und Raphael Holzdeppe Silber und Bronze im Stabhochsprung, die amerikanische 4x100-Meter-Staffel der Frauen brach mit einer Zeit von 40,82 Sekunden einen 27 Jahre alten Rekord. "Es hat schon immens gestört, man konnte sich nur schwer konzentrieren", sagte Klaas.

Dann kam die erste Entscheidung: Die Weite sei nicht mehr zu finden, Heidler solle einfach noch einmal werfen. Die guckte verdutzt, der Mann im Poloshirt hob die Schultern, der Mann im Helferhemd starrte in seinen Computer und hoffte, dass ihn niemand anspricht. Miss Sophie tröstete Heidler und guckte auf ihren Zettel. Heidler warf noch zwei Mal, freilich nicht so weit wie bei dem Versuch, den niemand mehr fand. Die Luft war raus, aus Heidler und aus dem Wettkampf.

Es war ein peinlicher Fehler, der umso peinlicher ist, weil es nach den Verwechslungen des Gebeins von Lilli Schwarzkopf schon zum zweiten Mal im Olympiastadion passierte. Peinlich war auch die Durchsage des Stadionsprechers, der verkündete: "Der fünfte Versuch von Heidler ist aufgrund eines technischen Fehlers nicht im System. Sie bekam einen neuen Versuch, aber der war nicht so weit wie der andere."

Damit war das Theater lange nicht vorbei: Goldgewinnerin Tatjana Lysenko (78,18 Meter) und die Zweitplatzierte Anita Wlodarczyk (77,60 Meter) liefen ihre Ehrenrunde. Auch dabei: Die Chinesin Zhang Wenxiu, die sich sicher war, Bronze gewonnen zu haben. Mit dieser Gewissheit kam sie auch in die Mixed Zone zu den Journalisten - doch ein Landsmann sagte ihr: Nönö, keine Medaille, vierter Platz.

Die Chinesen legten Protest ein (Heidler: "Das verstehe ich natürlich.") - zum einen mit der Begründung, dass die Weite nicht korrekt gemessen worden war. Zum anderen natürlich deshalb, weil durch den Messfehler der Wettbewerb komplett verzerrt worden war, denn natürlich hätten die Werferinnen anders agiert, wenn Heidler auf einem Medaillenrang gelegen hätte. Jedoch: Der Protest wurde abgelehnt, Heidler bekam Bronze.

"Es tut mir leid für Betty, sie ist um viele olympische Emotionen gekommen. Aber zumindest ist sie zu Bronze gekommen", sagte Cheftrainer Idriss Gonschinska. Es spricht für Heidler, gemeinhin nicht als nervenstarke Athletin bekannt, dass sie in diesen hektischen Minuten ruhig und gelassen reagierte. Allerdings: Sie hatte in diesem grotesken Schauspiel auch die tröstende Miss Sophie an ihrer Seite.

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