Dopingaffäre Pechstein:Werte, die alles zerstören

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Warum der Indizienprozess gegen Claudia Pechstein eine Signalwirkung hat, weit über den Eisschnelllauf hinaus.

Claudio Catuogno

Als klar ist, dass sich die Nachrichtensender live zugeschaltet haben, betritt Claudia Pechstein das Podium, "wir begrüßen die fünfmalige Olympiasiegerin", sagt der Moderator. Donnerstag, elf Uhr, ein Hotel in Berlin-Charlottenburg. Pechstein trägt hellblaue Jeans, eine weiße Bluse - und einen dicken Ordner unter dem Arm, vollgestopft mit gelben und rosa Zetteln. Sie will heute ihre Unschuld beweisen, und alle sollen es sehen. Links neben Pechstein sitzt der Medienanwalt Simon Bergmann, rechts neben ihr der Medienberater Ralf Grengel, der zugleich der Schwiegersohn ihres langjährigen Trainers ist. Ein Sportrechts-Experte ist nicht gekommen, aber noch gilt es ja nicht, die Richter des Internationalen Sportgerichtshofs Cas zu überzeugen. Heute geht es darum, in der Öffentlichkeit einen möglichst glaubwürdigen Eindruck zu hinterlassen.

Claudia Pechstein zeigt auf den Barcode eines Kontrollformular. (Foto: Foto: dpa)

"Erfolgreichste deutsche Winterolympionikin" - auf diesen Titel ist die Berliner Eisschnellläuferin immer besonders stolz gewesen. Fünfmal Gold, zweimal Silber und zweimal Bronze hat Claudia Pechstein bei Olympischen Spielen gewonnen. Inzwischen ist sie 37 Jahre alt, aber kommenden Februar in Vancouver wollte sie eigentlich ihre zehnte Olympia-Medaille erlaufen. Doch vorerst darf Pechstein keine Wettkämpfe mehr bestreiten, nicht einmal am Verbandstraining darf sie teilnehmen. Ein Schiedsgericht des Internationalen Eislaufverbands ISU hat sie zu einer zweijährigen Sperre verurteilt, wegen des sehr konkreten Verdachts auf Blutdoping.

Nie in all den Jahren hat sie eine positive Dopingprobe abgegeben. Aber nach den neuen Regeln, die im internationalen Anti-Doping-Kampf seit diesem Jahr gelten, war das auch gar nicht nötig. Man hat sie wegen ihrer extrem auffälligen Blutwerte verurteilt: Die Anzahl ihrer Retikulozyten, eine Vorstufe roter Blutkörperchen, sprang derart auf und ab, dass sich die von der ISU vernommenen Experten einig waren: Entweder sie hat manipuliert, eventuell mit dem Blutdopingmittel Epo. Oder sie ist krank. Bei der WM in Hamar, im Februar 2009, stieg der Retikulozyten-Wert bis auf 3,54 Prozent, der zulässige Grenzwert beträgt 2,4 Prozent. Da zog man Pechstein - unter etwas mysteriösen Umständen - aus dem Verkehr.

Wie eine eingeübte Theatervorstellung

Kein Geständnis, kein enttarntes Medikament, es ist ein Indizienprozess - der erste überhaupt im Profisport, den der Cas verhandeln muss. Vielleicht beginnt der schon nächste Woche, denn Pechsteins Anwälte haben einen Eilantrag gestellt, wegen Olympia. Und wie es auch ausgeht: Es wird einen großen Verlierer geben. Der Ruf der Wintersport-Ikone oder der Anti-Doping-Kampf, einer von beiden wird irreparablen Schaden nehmen. Viele im Spitzensport geläufige Schnellmacher sind bis heute nicht nachweisbar, die Überführung von Sportbetrügern anhand der Verlaufskurven ihrer Blutwerte gilt deshalb als die Methode der Zukunft. Auf einen erfolgreichen Musterprozess warten die internationalen Dopingjäger seit langem, er hätte Signalwirkung weit über das Eisschnelllaufen hinaus. Aber darauf kann Claudia Pechstein natürlich keine Rücksicht nehmen. Es geht hier um sie, um sonst nichts.

Der Saal ist abgedunkelt, die Inszenierung beginnt. Die Dramaturgie ist so sorgfältig ausgearbeitet wie bei einer vielfach eingeübten Theatervorstellung. Zunächst lässt Anwalt Bergmann die juristischen Fachbegriffe tanzen: "verkannte Beweislastverteilung", "fehlende Rechtsgrundlage", "unverzeihliche Verfahrensfehler". Wenn formal alles korrekt zugegangen wäre, soll das heißen, säße man heute nicht hier. Aber nur auf Paragraphen wird sich Claudia Pechstein nicht berufen können, nicht vor dem Gericht, das sie sich ausgesucht hat: die Öffentlichkeit. Deshalb folgen nun fast 90 Minuten mit Zahlen, Grafiken, Expertenstatements, die auf die Schnelle kaum überprüfbar sind. Und schon bald wird sogar eine fast abenteuerlich anmutende Frage aufgeworfen: Sind das überhaupt die Blutproben von Claudia Pechstein?

Pechstein schlägt ihren Ordner auf. Sie zeigt die Durchschläge, die sie in den vergangenen Jahren von den Dopingfahndern erhalten hat. Fürs TV-Publikum ist alles als Powerpoint-Grafik vorbereitet. Zum Beispiel jene Probe vom 25. August 2005, leicht über dem Grenzwert und daher relevant für die Anklage: Auf Pechsteins Formular hat sie den Code 016483. In der Liste der ISU steht 0004392. Ein anderer Barcode! "Da sieht man eindeutig, dass es sich nicht um die Probe von Claudia Pechstein handelt", sagt Ralf Grengel mit der gebotenen Empörung. Bei acht von 20 unangemeldeten Trainingskontrollen stimmten die Codes nicht, sagt er, außerdem bei mindestens drei weiteren im Wettkampf genommenen Proben. Grengel nennt das "einen handfesten Beweis".

Die nächste Probe, die nächste Ungereimtheit

Ist es tatsächlich zu Verwechslungen gekommen? Nachfragen kann man im Saal Femina des Berliner Hotels Ellington erst später stellen, als die Liveübertragung beendet ist, und mehr als Hinweise auf fehlende Dokumente erhält man von der Pechstein-Partei nicht. Dabei haben der ISU-Mediziner Harm Kuipers sowie mehrere Dopingfahnder den Irrtum zu diesem Zeitpunkt längst aufgeklärt: Gelegentlich haben Proben eben mehrere Codes, einen für die Analysemaschine, einen für die Unterlagen. Insofern das nachvollziehbar dokumentiert ist, gäbe es nichts zu beanstanden.

Im Liveprogramm aber geht es Schlag auf Schlag weiter, die nächste Probe, die nächste Ungereimtheit. Diesmal ein Röhrchen vom 15. April 2009, untersucht in den Labors von Kreischa und von Lausanne - mit stark abweichenden Ergebnissen: hier 2,4, dort 1,3. "Das zeigt, mit was für einem Irrsinn hier vorgegangen wird", schimpft Grengel. Und diesmal hält der Zweifel länger an: Wenn bei derselben Probe zwei so unterschiedliche Resultate herauskommen - wie kann man sich der 95 Werte sicher sein, auf die sich die Anklage stützt? Das wird die ISU erklären müssen.

Zwei Wissenschaftler treten auf. Rolf Kruse vom Bonner Referenzinstitut für Bioanalytik hat bei vergleichenden Studien sogar noch viel größere Schwankungen festgestellt und sagt nun zu den Pechstein-Werten: "Das ist ein normaler Verlauf, der durch die Streuung der verschiedenen Labore erklärt werden kann." Holger Kiesewetter, Direktor des Instituts für Transfusionsmedizin der Berliner Charité, hält den Retikulozytenwert "für den Dopingnachweis ohnehin für völlig ungeeignet". Dass er sich damit gegen den Rest der Expertenwelt stellt, stört ihn nicht weiter. Kiesewetter hat Pechstein gerade zwei Wochen lang untersucht und Werte zwischen 0,7 und 2,8 Prozent gemessen, und weil auch Kiesewetter weiß, dass diese Schwankungen ein Hinweis auf Doping sind, sagt er: "Wir haben auch auf Epo getestet." Nur: Auf welche der etwa hundert Epo-Varianten? Auf eine neue wie Cera? Auch Kiesewetter wird noch einige Fragen beantworten müssen.

Gedopt oder krank, diese beiden Optionen lässt das ISU-Urteil zu. "Ich bin jetzt erst mal froh, dass ich nicht krank bin", sagte Claudia Pechstein am Ende der Pressekonferenz. Und gedopt, das sei sie natürlich auch noch nie im Leben gewesen.

© SZ vom 07.08.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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