DFB-Quartier:Bannmeile für die Nationalelf

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Das Mannschaftshotel in Évian bietet alles für die Titelmission: Sicherheit, Komfort und frische Luft - nur einen Haken gibt es.

Von Philipp Selldorf

An der Avenida Beira Mar Nummer 1885 in Santo André, Brasilien, sieht es immer noch so aus wie damals. Zumindest laut Vermarktungsprospekt der Hotelbetreiber. Die Villen mit den dunklen Holzböden, der Pool im Zentrum des Campus, der atlantische Ozean vor der Tür - alles wie vor zwei Jahren, als der gute Geist des Campo Bahia die Deutschen zum Weltmeister machte.

Ansonsten aber, so berichten die Ortsansässigen, ist von den Hinterlassenschaften der Gäste nicht so viel geblieben. Das eigens angelegte Trainingsgelände im Sumpfland hinter den Dünen, auf dem Christoph Kramer unheimliche Begegnungen mit garantiert hochgiftigen Schlangen überstehen musste, ist wieder von der Natur vereinnahmt worden; der vom DFB gestiftete Dorffußballplatz bedarf der ständigen Ausbesserung und befindet sich vorwiegend in bedauerlichem Zustand. Und der Standard von Santo Andrés Generalversorgung durch die Kreisverwaltung wurde quasi am Tag der Abreise der DFB-Sattelschlepper wieder auf das Minimum zurückgeführt, das der Gemeinde am anderen Ufer des legendären Rio Joao di Tiba immer schon zuteilwurde.

Diesen Rückfall in eine Zeitrechnung vor der Ankunft des DFB wird es in Évian ganz gewiss nicht geben. Évian war bereits ein glanzvoller internationaler Treffpunkt, an dem der Sultan von Sansibar den Maharadscha von Kapurthala grüßte, als sämtliche Vertreter des DFB noch in das Hinterzimmer einer Gaststätte am Leipziger Hauptbahnhof passten und der Verband fern davon war, eine Organisation von nationaler Wichtigkeit zu sein.

Öffentliches Training im Stadion "Camille Fournier"

Der alte und altmodische Glanz der 8000 Einwohner zählenden Kleinstadt wird also keinen Schaden nehmen, wenn Joachim Löw und sein Gefolge in ein paar Wochen wieder abreisen werden. Aber bis dahin freut sich Évian über die Gegenwart der berühmten Gäste aus dem Nachbarland, die am heutigen Dienstag anreisen und sich am Abend um halb sieben mit einem öffentlichen Training im Stadion "Camille Fournier" erstmals den Einheimischen zeigen werden - und damit vermutlich auch zum letzten Mal. Selbst im stillen Santo André wagten nur wenige Nationalspieler Spaziergänge auf den sandigen Dorfwegen.

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Nun müssen sie nicht nur Schlangen und Kidnapper oder Autogrammsammler mit Handykamera fürchten, sondern auch Vorwürfe der Vorgesetzten wegen Nichtbeachtung der ihnen auferlegten Sicherheitsgebote. Die Sicherheit ist logischerweise ein führendes Thema für die Organisatoren, die Verantwortlichen - und die Betroffenen.

Rund um das auf den Höhen über Évian gelegene Hotel Ermitage, dessen 83 Zimmer die Nationalmannschaft mit ihrem Heer von Begleitern komplett belegen wird, haben die Aufpasser von Staatsschutz, Polizei und Security eine Bannmeile eingerichtet. Einlass nur mit Akkreditierung. Gleiches gilt für den nur einen Kilometer entfernten Trainingsplatz. Auslauf für die Spieler ist dennoch gewährleistet - der hoteleigene Park bemisst 19 Hektar. Groß genug beinahe, um hin und wieder eine Vermisstenmeldung zu empfangen.

Als Entdecker der Unterkunft tat sich diesmal Joachim Löws Assistent Thomas Schneider hervor. "Gefühlte 35 Mal" sei er mit Oliver Bierhoff in Frankreich gewesen, erzählte Schneider, dann entdeckte er die Zuflucht am Rande der Savoyer Alpen nicht weit von der Grenze zur Schweiz. Zunächst hatten die Deutschen Südfrankreich in den Blick genommen, an komfortablen Hotels hätte es nicht gemangelt, aber man fürchtete den Straßenverkehr und langwierige Touren über Serpentinenstraßen, und man hatte kein Zutrauen in die Qualität der Trainingsplätze.

So entschieden sich der Bundestrainer und seine Ratgeber für das Hotel Ermitage, obwohl es ungeheuerlicherweise lediglich mit vier Sternen versehen ist. "Es geht uns nicht um die Sterne", sagt Schneider, "sondern um ein kompaktes Arrangement, damit eine gute Atmosphäre entstehen kann". Das neue Camp sei "natürlich nicht vergleichbar" mit dem heiligen Campo Bahia.

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Letzteres sei sowieso unübertrefflich, fügt Oliver Bierhoff hinzu, der im erweiterten Sinn als Gründer des Campo firmiert und damit quasi ein Lebenswerk geschaffen hat. Jetzt hätte es der Teammanager gut gefunden, nach Paris zu gehen, allein schon, um nach innen wie nach außen den Anspruch des amtierenden Weltmeisters zu bekunden. Aber diese Idee ließ sich kaum vereinbaren mit den führenden Quartierskriterien des Bundestrainers, der Ruhe und Abgeschirmtheit schätzt und mindestens so gute Luft atmen möchte, wie er es daheim im Südschwarzwald zu tun pflegt.

Ein Ort für Poeten

Statt einer schlechten Kopie des Campo Bahia hat man daher nun ein alternatives Original in einem Kurort mit nostalgischen Anklängen gewählt. "Das Hotel liegt hoch, hat eine schöne Weite und gutes Licht", beliebt Bierhoff zu schwelgen. Ohnehin ist das Haus mit hoher Poesiekunst verbunden. Im benachbarten Schwesterhotel "Royal" hat vor bald hundert Jahren Marcel Proust an seiner Suche nach der verlorenen Zeit gearbeitet, dem berühmten und viel zitierten Werk, das jedoch wie James Joyces Ulysses nur von den Wenigsten bis zur letzten Seite gelesen wurde.

Zeit zum Studium langwieriger Schriftwerke werden die Deutschen vermutlich ausreichend zur Verfügung haben, denn es ist auch von einem Planungsfehler des Organisationsweltmeisters DFB zu berichten. Beim Abschluss der Verträge vor einem Jahr schwärmte der Verband noch von der segensreichen Nähe zum Flughafen Genf (45 Kilometer). Da hatte man aber nicht bedacht, dass Genf eine Stadt in der Schweiz ist.

Und da die Teams während des Turniers das Land des Ausrichters nicht verlassen dürfen - alte Auflage der Uefa -, werden Löw und seine Spieler nun zum 83 Kilometer entfernten Flughafen von Annecy reisen, wenn sie zu ihren Spielen aufbrechen. Diese finden während der Vorrunde allesamt im Norden statt, in Lille und Paris - also genau dort, wo die Deutschen nicht wohnen. Aber gemeinsame Busfahrten tragen vielleicht auch zur Gemeinschaftsbildung bei, so wie einst die Schiffstouren über den Rio Joao di Tiba unter dem Sternenhimmel von Santo André.

© SZ vom 07.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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