DFB-Elf bei der Fußball-EM:Sternstunde der Stand-by-Spieler

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Julian Weigl: Bisher noch Zuschauer bei der EM (Foto: Kenzo Tribouillard/AFP)

Julian Weigl oder Emre Can? Im EM-Halbfinale gegen Frankreich könnte es plötzlich auf jene DFB-Ersatzkräfte ankommen, die bislang nur zugeschaut haben.

Von Ulrich Hartmann, Bordeaux

Sami Khedira hat schon nichts Gutes geahnt, als er Samstagnacht durch die Katakomben des Stade de Bordeaux stakste. In einer eher harmlosen Szene in der 10. Minute beim Kampf um den Ball gegen seinen Klubkollegen Giorgio Chiellini von Juventus Turin wurden Khediras Adduktoren im linken Oberschenkel in Mitleidenschaft gezogen. Fünf Minuten später wurde er ausgewechselt. Nach Erkenntnissen vom Sonntag sind die Adduktoren mindestens angerissen. Khedira kann im Halbfinale am Donnerstag in Marseille höchstwahrscheinlich nicht und in einem möglichen Endspiel am Sonntag in Saint-Denis wahrscheinlich ebenfalls nicht mitspielen.

Dies würde ausgerechnet in der entscheidenden Phase eines aussichtsreichen Turniers sein Aus bedeuten und wäre für den defensiven Mittelfeldmann auch deshalb besonders bitter, weil er vor zwei Jahren schon das Finale der WM versäumt hatte wegen einer beim Aufwärmen erlittenen Zerrung in der Wade. Marco Reus ist ein Pechvogel, weil er beide Turniere verpasst hat, Khedira, weil er immer dann ausfällt, wenn es ernst wird.

Khedira verletzt, Bastian Schweinsteiger auch, Mats Hummels gesperrt, Jérôme Boateng plagen die Beinmuskeln - und Mario Gomez fällt nun auch noch aus, wie sich am Sonntag bei einer Untersuchung im Krankenhaus herausstellte. Bei dem Hackentrick, mit dem er beinahe das zweite deutsche Tor erzielt hätte, zog er sich einen Muskelfasserriss im rechten hinteren Oberschenkel zu - Einsatz im Halbfinale und einem möglichen Endspiel ausgeschlossen, hieß es in einer DFB-Mitteilung. Kapitän Schweinsteiger bekam nach seiner Einwechslung einen Schlag auf das in diesem Jahr schon zweimal verletzte rechte Knie. Bei ihm wurde eine Außenbandzerrung festgestellt.

"Wir machen uns keine Sorgen", sagt Hector

Es sieht wahrlich nicht allzu gut aus für die Deutschen vor dem Halbfinale. Das Fehlen von Hummels und Khedira ist vor allem von Nachteil für Verteidigung und Aufbau, denn mit dem Innenverteidiger und dem Mittelfeldmann fallen zwei Fußballer aus, die für die Spieleröffnung unverzichtbar sind. Hummels ist nicht nur ein erfahrener Abwehrmann mit Übersicht und Chuzpe, sondern auch ein zuverlässiger Initiator mittlerer und längerer Präzisions-Zuspiele sowie überdies ein gefährlicher Kopfballspieler. Sein Ausfall aufgrund seiner zweiten gelben Karte im Turnier wiegt schwer, allerdings kann sich nun das stete Loblied des Bundestrainers Joachim Löw auf den Fleiß seiner Stand-by-Spieler bewahrheiten.

Der gegen Italien in die Startelf zurückgekehrte Benedikt Höwedes ist ebenso ein Kandidat für die Hummels-Position in der Innenverteidigung wie Shkodran Mustafi, der den im ersten Turnierspiel noch nicht fitten Hummels ersetzt und zum 2:0 gegen die Ukraine sogar einen Treffer beigetragen hatte. "Wir haben es im ersten Spiel auch geschafft, Mats zu ersetzen", sagt Jonas Hector, "unser Kader ist gut aufgestellt, wir machen uns keine Sorgen." Anders würde es wohl aussehen, wenn in Boateng auch noch der zweite Innenverteidiger ausfiele.

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Der Stürmer zog sich einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zu. Ob Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira zum Halbfinale fit werden, ist offen.

Den neuen FC-Bayern-Spieler Hummels betrübt vor allem, dass er in seiner Fußballerkarriere zum ersten Mal wegen gelber Karten gesperrt ist, und dies ausgerechnet in einem EM-Halbfinale. Es gibt im Leben nicht sehr viele Spiele, die aus der Masse herausragen, aber dieses wäre eines gewesen.

"Auf so ein Halbfinale hätte ich schon Bock gehabt", sagte Hummels, "es wird hart, da nur zuzuschauen." Immerhin besitzt er die Hoffnung, dass die Mannschaft trotz der personellen Unwägbarkeiten gewinnt - und ihm damit ermöglicht, am Sonntag das Endspiel in Saint-Denis zu bestreiten: "Das Finale wäre eine Entschädigung."

Damit geht es ihm besser als Gomez und den eher hoffnungslosen Khedira und Schweinsteiger. Ihr Mitwirken im Halbfinale am Donnerstag in Marseille und in einem möglichen Endspiel am Sonntag in Paris bezeichnete der DFB am Abend als "offen". "Für uns heißt das, dass wir die neue Situation annehmen und Lösungen finden müssen. Und das werden wir", erklärte Löw kämpferisch. Emre Can eignet sich für die Khedira-Schweinsteiger-Position, außerdem der Dortmunder Julian Weigl; beide haben allerdings bislang keine Minute gespielt.

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Gefährlich für die Deutschen und die Qualität ihres Spiels ist in Marseille aber noch eine andere Sache. Es sei noch einmal daran erinnert, dass am 13. Mai im Stade Vélodrome Tausende von Menschen zur Musik einer rüstigen Seniorentruppe namens AC/DC gehüpft sind. Dem Rasen hat man das noch Wochen später nach dem Beginn der EM angemerkt. Die Halme sind in erbärmlichem Zustand, dazwischen prangen offene Stellen. Das könnte sich für die Deutschen als problematisch erweisen, weil sie mit 63 Prozent Ballbesitz die dominanteste Mannschaft im Turnier bilden.

Wer oft den Ball hat, spielt viele Pässe, und wer viele Pässe spielt, kann einen unebenen Untergrund nicht gebrauchen. Präzision ist für den Erfolg des deutschen Spiels wichtig, und auch damit könnte es in Marseille schwierig werden.

© SZ vom 04.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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