Bundestrainer Löw:Eine Lektion für die Scholls

Germany v Italy - EURO 2016 - Quarter Final

Der Bundestrainer hatte einen Plan.

(Foto: REUTERS)

Mit Hintersinn hat Joachim Löw die deutsche Nationalelf ins EM-Halbfinale gecoacht. Er war dabei einen Schritt weiter als seine Kritiker.

Kommentar von Christof Kneer

Darf man dieses Spiel nun in die Geschichtsbücher aufnehmen? Die Frage wird unter Historikern vermutlich einen erregten Wortwechsel provozieren, und man kann sich schon ungefähr vorstellen, wie die Argumentationslinien verlaufen. Die einen werden als Kapitel "Deutschland besiegt Italien-Trauma" vorschlagen. Die anderen werden entgegnen: Warum? Deutschland hat in der regulären Spielzeit doch nur 1:1 gespielt.

Ohne dem historischen Diskurs vorzugreifen, darf man vermuten, dass sich am Ende jene durchsetzen werden, die Deutschland im Halbfinale sehen. Dieser Ansatz deckt sich mit dem Geschichtsempfinden des Publikums, dagegen spricht allerdings, dass die Unentschieden-These von der Gazzetta dello Sport stammt ("Deutschland bricht den Fluch, aber nur im Elfmeterschießen"). Und eine Zeitung, die ganz in Rosa erscheint, ist natürlich unbedingt zu respektieren.

Daraus lässt sich entnehmen, dass man ein Fußballspiel so und so sehen kann. Auch die mit amtlichem Trainerschein zertifizierten Experten sind sich später ja uneinig gewesen; während Mehmet Scholl wegen der Umbauten im Team eine scharfe Anklage formulierte, nannte es Joachim Löw "dringend notwendig, die Mannschaft ein bisschen zu verändern".

Scholls analytische Leistung besteht nun vor allem darin, dass er den freundlichen Bundestrainer aus der Reserve gelockt hat. Löw hat, was er sonst selten tut, die Tür zu seiner Taktikwerkstatt geöffnet und die Nation an seinen Überlegungen teilhaben lassen. Im Gewand der nüchternen Analyse war das nichts anderes als eine Lektion für die Scholls unter seinen Kritikern.

Beim ersten Schnuppern roch die Aufstellung etwas nach 2012

Tatsächlich ist Löw ein gewisses persönliches Risiko eingegangen, als er entschied, den defensiven Höwedes für den offensiven Draxler ins Team zu nehmen. Zuvor hatte er ja erklärt, dass er sich nicht mehr dem Willen des Gegners unterwerfen wolle, und wer wollte, konnte daraus nun einen Widerspruch konstruieren. Löw hat diese öffentliche Wahrnehmung bewusst in Kauf genommen, und auch, dass seine Aufstellung beim ersten Schnuppern tatsächlich ein wenig nach 2012 roch. Damals, im berüchtigten Halbfinale gegen Italien, hatte Löw seine Elf in einer betont reaktiven Formation aufs Feld geschickt und ihr damit jegliche Stabilität genommen.

Nimmt man Stabilität als Maßstab, so drängt sich nun ein anderes Urteil auf. Löws Aufstellung war diesmal keine unterlassene Hilfeleistung, sondern das Gegenteil: Er hat seiner von historischen Italien-Debatten beschwerten Elf eine Taktik verschrieben, mit der sie sich gegen einen raffinierten Gegner erst mal beschützt fühlen konnte. Und anders als 2012 war es auch keine windschiefe, nie eingeübte Formation, sondern eine, die Löw mit seiner Elf seit Monaten für solche Fälle erprobt hat. Löws Entscheidung war die eines Managers mit Personalverantwortung, der genau weiß, dass er dem Azubi Kimmich auf dessen erster großer Dienstreise noch einen erfahrenen Mitarbeiter (Höwedes) zur Seite stellen muss.

Natürlich, es hätte auch schiefgehen können. Aber inzwischen hat Joachim Löw auch die verdiente Fortune eines Trainers, der bei fünf Versuchen fünfmal das Halbfinale erreicht hat.

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