Defensive der DFB-Elf:Filigran wie ein Ochsenkarren

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Auf Außenposten in Brasilien: Die deutschen Abwehrspieler Jérôme Boateng (li.) und Benedikt Höwedes (Foto: Patrick Stollarz/AFP)

Der Mangel an WM-tauglichen Außenverteidigern hat Bundestrainer Joachim Löw zu einer überraschenden Schlussfolgerung inspiriert: Mit einer Abwehrkette, die ausschließlich aus Innenverteidigern besteht, will er am Montag den Portugiesen begegnen.

Von Christof Kneer, Santo André

Arne Friedrich sieht drahtig aus, man würde ihn gerne fragen, ob er spielen kann. Arne Friedrich steht drüben vor dem Presseraum, aber er hat keinen Spielerpass mehr, die Bandscheibe macht nicht mehr mit. Friedrich, 34, trägt eine Akkreditierung um den Hals, er gehört jetzt zur anderen Seite, er ist jetzt einer von denen. Er ist jetzt: ein Reporter.

Für alle, die es vergessen haben: Arne Friedrich war mal ein deutscher Fußballspieler. Genau genommen war er mehrere Fußballspieler: 2006, im sog. Sommermärchen, war er der, der störte, die Leute nahmen ihm übel, dass er Arne Friedrich ist. Arne Friedrich zu sein, bedeutete damals, mit dem Fuß auf den Ball zu steigen und einen Querpass zu spielen, während um ihn herum alle im wilden Klinsmann-Wahn nach vorne rasten.

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Vier Jahre später stand derselbe Arne Friedrich in der All-Star-Elf der WM 2010. Für diese Elf hatte er sich unter anderem dadurch qualifiziert, dass er Querpässe spielte, die das Spiel nicht mehr nervtötend herunterbremsten, sondern es seriös ausbalancierten. So haben die Leute das jedenfalls wahrgenommen: 2006 war Arne Friedrich der Spielverderber. 2010 hat er dem Gegner den Spaß verdorben.

Lieber mit vier Schwarzenbecks

Fußball ist ab einem gewissen Niveau immer auch Geschmackssache, und es kommt auch immer darauf an, in welche Zeit ein Spieler gerade gerät. 2006 war nicht die Zeit für Arne Friedrich, 2010 dagegen sehr. Friedrich kann das bald alles den Zuschauern des chinesischen Senders Now Sports erzählen, für den er die deutschen WM-Spiele analysiert. Aber viel lieber würde man hören, was ihm zur deutschen WM-Abwehr einfällt. Es ist eine Abwehr, in der Arne Friedrich sich wohl fühlen würde.

Spielt nicht so gern Außenverteidiger, kann das aber ganz gut: Jerome Boateng (Foto: Bongarts/Getty Images)

Bei der WM 2006 war Arne Friedrich ein Außenverteidiger, bei der WM 2010 war er ein Innenverteidiger. Aber wenn man den Bundestrainer Joachim Löw richtig verstanden hat, dann ist das bei der WM 2014 kein großer Unterschied mehr.

Rechts Boateng, halb rechts Mertesacker, halb links Hummels, links Höwedes - mit dieser Abwehrkette will Löw am Montag den Portugiesen begegnen; das ist eine Aufstellung, die ohnehin schon recht spektakulär klingt, aber besonders spektakulär wird sie durch den Umstand, dass es eine Löw-Aufstellung ist. Löw steht im Ruf, lieber einen Özil zu viel als einen Özil zu wenig aufzustellen, und nun kommt er der Welt mit einer Abwehr, die so filigran ist wie ein Ochsenkarren.

Der offenkundige Mangel an WM-tauglichen Außenverteidigern hat Löw zu einer überraschenden Schlussfolgerung inspiriert: Wenn er den besten Außenverteidiger (Lahm) ins Mittelfeld stellt und ansonsten keinen mehr findet, dann stellt er einfach keinen auf. Dann knüpft er einfach eine Kette aus vier Innenverteidigern, von denen zwei - Boateng und Höwedes - außen spielen. Boateng macht das nicht so gern, kann das aber ganz gut; Höwedes macht das auch nicht so gern und macht es auch nicht so gut wie Boateng. Auf rechts ist Höwedes ein erprobte Notlösung, auf links ist er eine nahezu unerprobte Notnotlösung.

Joachim Löw macht zum warm werden gerne mal zwei, drei Übersteiger, wenn er in Santo André auf den Trainingsplatz kommt, oder er macht den Zidane-Trick, jedenfalls macht er nichts, was ihn als Liebhaber der Vorstopperkunst ausweist. Er will den deutschen Fußball eigentlich in die Moderne führen oder eben in das, was er unter Moderne versteht, aber der Respekt vor den Urkräften dieser WM und dem Auftaktgegner Portugal ist so groß, dass er jetzt lieber mit vier Schwarzenbecks spielt.

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"Bei diesem Turnier werden wir nicht unbedingt hoch stehende Außenverteidiger brauchen, die wie in der Qualifikation ständig die Linie auf und ab marschieren", sagt Löw; aber natürlich wolle er das "nicht gänzlich verhindern".

Wenn Joachim Löw nicht aufpasst, wird am Ende noch ein Pragmatiker aus ihm. Bislang hat er sich im Zweifel immer eher für die ästhetische Lösung entschieden, und in der Offensive wird er sie auch bei diesem Turnier suchen. Aber natürlich sind ihm die zahlreichen Gegentore nicht entgangen, die sich seine Elf zuletzt vor allem durch die Mitte gefangen hat, und natürlich haben ihn die Analysten in seinem Trainerstab auch darauf hingewiesen, "dass die Portugiesen zehn ihrer letzten zwölf Tore durch Konter erzielt haben", wie Löw gleich mehrmals betonte.

Der Bundestrainer weiß, dass er sich etwas einfallen lassen muss, wenn er sich weiter vorne Özil, Kroos, Podolski oder Götze leisten will, Spieler, die bei der Verteilung des Talents so lange in der Ballgefühl-Schlange angestanden sind, bis die Schalter mit den defensiven Tugenden geschlossen hatten. Diese Spieler haben hinten keine Augen, sie nehmen zu wenig wahr, wenn sich in ihrem Rücken etwas zusammenbraut; aber da, wo bisher Lücken waren, sollen die deutschen Gegner künftig auf lauter Schwarzenbecks prallen. "Innenverteidiger kennen auch die Verantwortung, das Zentrum zuzumachen", sagt Löw; sie sollen mit einrücken, wenn zum Beispiel Cristiano Ronaldo von außen in jene zentralen Räume einbiegt, die Özil, Kroos oder womöglich auch der Rekonvaleszent Khedira klaffen lassen.

Auch in Zweikämpfen und bei Standardsituationen sei es "ein großer Vorteil, vier gelernte Innenverteidiger auf dem Platz zu haben", sagt Joachim Löw - jener Löw, der Zweikämpfe und Standardsituationen bisher eher unter Protest als Elemente des Fußballs akzeptiert hat.

Arne Friedrich wird sich mit Interesse anschauen, wie die Abwehr mit den vier Schwarzenbecks funktioniert, und im Erfolgsfall wird er den Zuschauern von Now Sports eine gute Geschichte erzählen können, von einem Bundestrainer, der über seinen Schatten gesprungen ist.

© SZ vom 14.06.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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