Champions League:Der Kopf der Königlichen

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Sein dritter Streich: Karim Benzema bestraft beim 3:1 für Real einen dicken Patzer von Chelsea-Torwart Mendy. (Foto: David Klein/Sportimage / Imago)

Mit seinem zweiten Dreierpack nacheinander und zwei künstlerisch hochwertigen Kopfballtoren bringt Karim Benzema Real Madrid dem Halbfinale bereits sehr nahe. Für Titelverteidiger FC Chelsea ist der eigene Systemabsturz beim 1:3 ein Schock.

Von Sven Haist, London

Wahrscheinlich köpfelte Karim Benzema den Ball bei den ersten beiden seiner drei Treffer für Real Mad­rid am Mittwochabend präziser aufs Tor, als es die meisten anderen Spieler der Welt mit dem Fuß hingekriegt hätten. Die Schönheit seiner zwei Kopfballtore war atemberaubend. Binnen drei Minuten lenkte der Franzose die Kugel zwei Mal von seinem Scheitel ins Tor des FC Chelsea (21./24.), auf ganz unterschiedliche Weise, aber beide Male mit außergewöhnlich grazilen Bewegungsabläufen. Diese Kunststücke Benzemas an einem regnerischen Abend in London sind nun eine Art neue Referenz für perfekte Kopfballtore - so ähnlich wie es der Flugkopfball des Niederländers Robin van Persie bei der WM 2014 war.

Fälschlicherweise glauben viele, dass Kopfbälle stets mit Kraft und Wucht erfolgen müssen. Doch oft besteht das Geschick eher darin, die Ge­schwin­digkeit der Flanke zu absorbieren und den Ball mit möglichst geringem Reibungsverlust aufs Tor zu lenken. Bei seinem 1:0 gegen Chelsea machte sich Benzema die Schärfe und den Effet der etwas zu tief geratenen Hereingabe zunutze, indem er den Ball aus vollem Lauf in gebückter Haltung in den Torwinkel katapultierte. Beim 2:0 kam es dann nicht auf Reaktionsschnelligkeit, sondern vor allem auf Körperbeherrschung an, als Benzema im Rückwärts­laufen einen scheinbar über ihn hinweg fliegenden Ball entgegen seiner Flugrichtung unten ins sogenannte lange Eck setzte.

Die Madri­der Sportzeitung Marca zog eine Analogie von Benzema, dem neuen König der Lüfte, zum "Big Ben", dem Londoner Clock Tower an der Themse. Den wunderbaren Kopfbällen ließ der Franzose noch seinen dritten Treffer folgen, zum möglicherweise schon Viertelfinal-entscheidenden 3:1-Endstand (48.), wobei er einen Aussetzer von Chelsea-Torwart Édouard Mendy erahnte und nutzte. Es war Benzemas zweiter Dreierpack in der Champions League nacheinander, nach seinen Treffern zum 3:1 bei Reals Achtelfinal-Aufholjagd gegen Paris Saint-Germain. Damit ist Benzema jetzt neben Luiz Adriano, Lionel Messi und Cristiano Ronaldo einer von nur vier Spielern, denen dies bisher in Europas Königsklasse gelang.

Benzema sei, heißt es, "mit seinen Füßen ein Mittelfeldspieler - und mit seinen Augen ein Stürmer".

Dies seien "magische Nächte" für ihn, sagte Benzema ergriffen. Auch weit nach Abpfiff galten ihm noch die Sprechgesänge der mitgereisten Real-Fans. "Wie ein guter Wein" werde Benzema, 34, mit jedem Tag besser, lobte ihn sein Trainer Carlo Ancelotti, 62. Wobei auf den Real-Coach selbst durchaus dasselbe Kompliment zutreffen könnte.

Bei der Neuauflage des Halbfinales der Vorsaison, das seinerzeit Chelsea auf dem Weg zum Titelgewinn klar für sich entschied, drehte Real den Spieß diesmal deutlich herum. Anders als beim damaligen Rückspiel an der Stamford Bridge, gab Real die Initiative diesmal sofort an die Londoner ab. Obwohl Chelsea am Wochenende in der Liga dem FC Brentford irritierend hoch unterlegen war (1:4), stufte Trainer Thomas Tuchel fatalerweise die Niederlage offenbar nur als Aussetzer ein. Er schickte seine Elf taktisch genauso forsch wie sonst ins Rennen. Statt erst mal wieder für mehr defensive Stabilität zu sorgen, etwa mit einer tiefen Fünferkette, beorderte Tuchel seinen Rechtsaußen Reece James ins Mittelfeld, wodurch dessen Nebenmann, der ungelenke halbrechte Innenverteidiger Andreas Christensen, mit Reals pfeilschnellem Vinicius Júnior meist isoliert war.

Die Idee von Chelsea war, den von Ancelotti klugerweise an den eigenen Strafraum zurückverlegten Spielaufbau frühzeitig zu stoppen. Doch dieses Vorhaben misslang aufgrund der Ballsicherheit Reals. Erst in der Halbzeitpause reagierte Tuchel mit einem Doppelwechsel, indem er James auf die Position des überforderten Christensen zurückholte. Das sei "sein Fehler" gewesen, gestand Tuchel später.

Der Trainer war nach dem 1:3 sichtlich frustriert. Sein Team habe "an Form und Schärfe" verloren und sei "in allen Bereichen" unterlegen gewesen, die erste Halbzeit, betonte Tuchel, sei eine der "schlechtesten" überhaupt und "eine Wiederholung" der bereits unerklärlichen zweiten Halbzeit gegen Brentford gewesen. Wirklich beunruhigend sei, dass er "keine Erklärung" für den plötzlichen Leistungseinbruch habe, gestand Tuchel. Eigentlich habe sich "nichts" verändert im Vergleich zur sportlich guten Gesamtsituation, in der sich Chelsea bis zur jüngsten zweiwöchigen Länderspielpause befand.

Dieses Hinspiel-Ergebnis, sagte Tuchel fast schon resignativ, sei gegen ein Topteam wie Real quasi "nicht mehr" zu reparieren. Falls seine Mannschaft in Madrid am kommenden Dienstag wieder genauso auftrete, werde man vielmehr im Bernabeu-Stadion eine "heftige Klatsche" erleben.

Immerhin trat Chelsea am Mittwoch nach Tuchels Umstellungen wieder ansatzweise wettbewerbsfähig auf. Angesichts einiger hochkarätiger Chancen, zum Beispiel bei Kopfbällen des eingewechselten Rekordablöse-Stürmers Romelu Lukaku, hätte man das 1:3 durchaus noch korrigieren können. Doch im Gegensatz zu Real fehlt Chelsea momentan - außer dem deutschen Nationalstürmer Kai Havertz, der das zwischenzeitliche 1:2 erzielte (40.) - ein verlässlicher Torjäger. Einer wie Benzema, der sagenhafte 37 Tore in 36 Saisonspielen für Real erzielt hat.

In Madrid heißt es über Benzema, dass er durch den Real-Abschied von Cristiano Ronaldo vor vier Jahren eine "dritte Karrierephase" erreicht habe. Nach vier französischen Meisterschaften mit Olympique Lyon verpflichtete Real den früh als Wunderkind gepriesenen Torjäger im Sommer 2009. Seitdem stellte er immerzu seine Abschlussqualitäten unter Beweis (316 Tore in 595 Spielen), er stand jedoch oft als selbstloser Zuarbeiter für Partner Ronaldo in dessen Schatten. Die Zeitung Marca widmete Benzema nun eine außergewöhnliche Lobpreisung: Er sei "mit seinen Füßen" ein Mittelfeldspieler und "mit seinen Augen" ein Stürmer. Vor allem aber ist Karim Benzema gerade der Kopf von Real.

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