Wenn Julian Draxler an diesem Montag bei eisigen Temperaturen das Wolfsburger Trainingsgelände betritt, mit wärmender Trainingsjacke und Handschuhen, dann ist er immer noch ein hoch veranlagter Nationalspieler, der nach eigener Ansicht im falschen Klub gefangen gehalten wird. Beim VfL Wolfsburg, der inzwischen im Bundesliga-Abstiegskampf festhängt und auf die Gültigkeit des Vertrages seines teuersten Angestellten pocht, während er, Draxler, viel lieber in Frankreich oder auf der britischen Insel kicken würde.
Zumindest diesen - bislang erstaunlich kalten - niedersächsischen Frühwinter wird er noch in Wolfsburg verbringen müssen, von daher: Alles wie gehabt für Draxler.
Und doch hat sich etwas gewandelt. Bislang war er es, Draxler, der darauf drängte, das Missverständnis zu beenden und den VfL verlassen zu dürfen, wogegen der Klub in Person von Geschäftsführer Klaus Allofs sein Veto einlegte. Am Samstagnachmittag, beim 2:3 (2:1) gegen Hertha BSC, da waren sie es, die VfL-Fans, die Draxler verdeutlichten, wie gerne sie ihn bald in Paris oder London oder sonstwo wüssten.
Als Draxler um kurz nach 17 Uhr beim Stand von 2:2 eingewechselt wurde, begann die Anhängerschaft laut zu pfeifen. Ihre Wahl auf Draxler als Sündenbock schien insofern berechtigt, als dass der Eingewechselte in den zwölf Minuten seines Mitwirkens nur sechs Ballkontakte hatte, dabei vier Pässe spielte, von denen zwei den Mitspieler verfehlten, der VfL in der Schlussphase per Elfmeter sogar das 2:3 (91. Minute) kassierte, den aber immerhin nicht Draxler verschuldet hatte, sondern Daniel Caligiuri. "Sie haben ihr gutes Recht", sagte Draxler über die Pfiffe der Anhänger, fügte aber an: "Was das mit einem als Menschen macht, das brauche ich wohl keinem zu erzählen."
Der Trend zeigt beim VfL Wolfsburg weiter nach unten, und die Art und Weise, mit der sich die Fans gegen Draxler wandten, wirkt symptomatisch. Schließlich muss sich der Mutterkonzern Volkswagen aktuell fragen lassen, inwiefern das kostspielige Engagement für den erfolglos dümpelnden Fußballklub (80 bis 90 Millionen Euro pro Saison) gerechtfertigt ist, wenn andernorts Tausende einfache VW-Arbeiter ihre Jobs verlieren könnten. Da passt ein forsch auf finanzielle Unterstützung pochender Fußball-Geschäftsführer (Klaus Allofs) ebenso wenig ins Bild wie der teuerste Profi, der als Aushängeschild des ganzes Vereins vorgesehen war, derzeit aber maximal Dienst nach Vorschrift zu machen scheint (Draxler).
So hatte Trainer Valérien Ismaël angekündigt, er setze künftig nur noch auf "Typen, die gewinnen wollen" - und verbannte Draxler gegen Berlin demonstrative 78 Minuten auf die Bank. Als dieser eingewechselt wurde, konnten die Fans gar nicht anders als zu pfeifen.
Draxlers spitze Bemerkung Richtung Wolfsburg
Ohne den 35-Millionen-Mann hatte Wolfsburg durchaus fesch begonnen, schon nach zwölf Minuten erzielte Borja Mayoral die Führung. Den Ausgleich durch Berlins Marvin Plattenhardt (16.) hakte das Team schnell ab, Eigengewächs Paul Seguin eroberte kurz darauf per Flachschuss die Führung zurück (18.). Ohne Draxler spielte Wolfsburg eine untypisch gute Halbzeit, die beste seit Wochen; was allerdings eine Randnotiz blieb, weil der VfL eine typische zweite Hälfte folgen ließ.
Völlig verängstigt zogen sich die Wolfsburger zurück, je weiter die Uhr der 90. Minute entgegentickte. "Die Minuten wurden immer länger", schilderte Maximilian Arnold seine Gefühle auf dem Rasen, und nachdem Alexander Esswein (69.) zum Ausgleich getroffen hatte, folgte das quasi unvermeidliche Finale - in Form zweier grober Schnitzer der Wolfsburger; erst ein unbedachtes Foul von Seguin, der mit Gelb-Rot vom Platz flog (87.); dann ein noch verhängnisvolleres Foul von Caligiuri in der Nachspielzeit im eigenen Strafraum. Salomon Kalou trat zum Strafstoß an und verwandelte kühl, die Fans waren fassungslos. Als Draxler in die Katakomben trottete, pfiffen sie noch einmal besonders kräftig.
Geschäftsführer Allofs, unter der Woche selbst vom Aufsichtsrat zur Ordnung gerufen, scheint das Thema ebenfalls Leid zu sein. Es gebe "gültige Verträge", sagte er zwar. Allerdings hatte er bereits eingeräumt, dass es ein Fehler gewesen sein könnte, Draxler im Sommer zum Bleiben verdonnert zu haben. Darf er nun im Winter weg? "Viel mehr Sorgen macht mir, dass wir aus sieben Heimspielen nur zwei Punkte holen konnten", sagte Allofs. Von einem "Kopfproblem" sprach Ismaël diesbezüglich, und auch Draxler bemerkte spitz: "Ich glaube, dass der Verein und die Umgebung hier zurzeit größere Probleme haben als meine Person." Auch das klang nicht, als gehöre er noch richtig dazu.