Um die Deutungshoheit gab es nach dem Abpfiff noch Uneinigkeit. Borussia Dortmunds Kapitän Marco Reus, bei dem man das Gefühl hatte, dass er defensiv geackert hatte wie ein gelernter Verteidiger, setzte den gerade 2:0 besiegten Gegner noch mehr unter Druck: "Ich glaube, psychologisch sind wir jetzt im Vorteil." Der Sportchef des Gegners VfL Wolfsburg, Jörg Schmadtke, hatte nach der Heimschlappe aber das Gegenteil geschlussfolgert: "Wir sind noch zwei Punkte vor Dortmund, und wenn ich das Restprogramm anschaue, wage ich zu bezweifeln, dass sie die zwei Punkte noch aufholen."
RB Leipzig steht durch ein 2:0 gegen den VfB vor der neuerlichen Champions-League-Qualifikation - ein früher Eingriff des Videoschiedsrichters ebnet den Weg. Der FC Bayern muss auf die Meisterschaft noch warten.
Die Interpretation des an sich eher feingeistigen Fußballers Reus klang irgendwie glaubwürdiger, auch wenn natürlich beide Statements vor allem als psychologische Kriegsführung gedacht waren. Der Dreikampf um die zwei noch nicht vergebenen Champions-League-Plätze drei und vier, der seit Samstag endgültig zwischen Wolfsburg, Dortmund und Eintracht Frankfurt ausgerufen ist, bleibt eine Dreisatz-Rechnung mit lauter Unbekannten. Das wichtigste Argument brachte BVB-Innenverteidiger Manual Akanji an: "Vor ein paar Wochen hatte Wolfsburg noch elf Punkte Vorsprung auf uns, jetzt sind es noch zwei. Wir machen denen Druck. Der Trend ist klar."
Im direkten Duell beim VfL gewann der BVB sein viertes Bundesliga-Spiel in Serie. Zum ersten Mal scheint Dortmund Stabilität und Kontinuität in diese lange Zeit irrlichternde Saison zu bekommen. Nach der 1:2-Heimpleite gegen den anderen direkten Konkurrenten Frankfurt hatte Dortmunds Wortführer Mats Hummels jüngst bis Saisonende nur noch K.o.-Spiele ausgerufen. Nur eines davon, gegen Manchester City im Champions-League-Viertelfinale, hat Dortmund seitdem knapp (1:2) und unter Mitwirkung des Schiedsrichters verloren. Von Frankfurts Sieben-Punkte-Vorsprung auf Dortmund, der noch vor drei Wochen bestand, ist inzwischen nur noch ein Zähler übrig. Drei Spieltage vor Schluss hat Dortmund das Momentum, aber noch immer die gleiche Vorgabe: Jedes Spiel ist ein Finale, jedes weitere Unentschieden bedeutet das Aus. Doch das scheint den Borussen zu liegen.
Beim Sieg in Wolfsburg musste Trainer Edin Terzic auf den gelb-gesperrten Mats Hummels verzichten, Jadon Sancho erwies sich als noch formschwach nach acht Wochen Zwangspause wegen eines Muskelbündelrisses, und auch Gio Reyna ging angeschlagen ins Spiel. Obendrein flog nach einer Stunde Spielzeit bei den Gästen Jude Bellingham mit Gelb-Rot vom Platz. Das alles steckte Dortmund weg.
Gewinnt der BVB noch dreimal, dann reicht bereits ein Patzer eines Rivalen
Über eine halbe Stunde verteidigte die sonst so sehr aufs Spielerische geeichte Mannschaft rabiat den Vorsprung, der durch Erling Haalands frühes Tor zum 1:0 zustande gekommen war. Statt selbst allzu sehr unter Druck zu kommen, setzte der BVB selbst noch einen Schlag: Mo Dahoud fing einen unpräzisen Pass vor dem eigenen Strafraum ab, schaltete blitzschnell um, passte rasiermesserscharf und flach auf den startenden Haaland, und der zog 60 Meter lang so unaufhaltsam davon, dass man sich einbildete, Kondensstreifen zu sehen. Torjäger Haaland meldete sich nicht nur mit diesem 2:0 eindrucksvoll aus der Formschwäche zurück.
Wer aus solchen Explosionen der eigenen Leistungsfähigkeit keinen, Zitat Reus, "psychologischen Vorteil" tankt, der kennt sich mit dem Spiel nicht aus. Dortmund hat zwar ein schwierig anmutendes Restprogramm - gegen Leipzig, dann bei Mainz, der Mannschaft der Stunde, und zum Schluss zu Hause gegen Bayer Leverkusen -, aber die Dortmunder Spieler sind nun auf höchstem Selbstbewusstseins-Level angekommen. Wolfsburg muss noch gegen Union, bei RB Leipzig und zuletzt gegen Mainz ran. Frankfurt spielt noch im Lokalderby gegen Mainz, bei Absteiger Schalke und gegen Freiburg. Nach eigener Arithmetik sollte der BVB mit dem augenblicklichen Schwung noch neun Punkte holen. Leistet sich dann nur einer der beiden Konkurrenten ein einziges Unentschieden, würde Dortmund noch auf Platz vier und in Europas Königsklasse rutschen, weil auch die eigene Tordifferenz gut ist.
Die vier sehr starken Champions-League-Auftritte gegen Sevilla und Manchester, jeweils mit dem Gegner auf Augenhöhe, dann zwei erkämpfte Siege gegen die Mitkonkurrenten Union Berlin und Wolfsburg: Es scheint so zu sein, als wären die Umbauarbeiten von Interimstrainer Terzic gerade noch rechtzeitig fertig geworden. Terzic fordert höchst konzentrierten Powerfußball, trotzdem immer maximal spielerisch, weil das halt der Besetzung des Kaders entspricht: "Wir müssen jetzt ganz viel Energie aus diesen vier Siegen tanken. Dann ist es möglich, dass wir auch die nächsten drei Spiele gewinnen", sagt der Coach.
Ganz nebenbei erwartet die Borussia am nächsten Samstag auch noch den Zweitligisten Holstein Kiel zum DFB-Pokal-Halbfinale. Das Pokalfinale, mutmaßlich gegen Leipzig (das auf Werder Bremen trifft) ist also in Reichweite, der Pokalsieg möglich. Dann würde plötzlich aus einer verkorksten Saison doch noch eine sehr vorzeigbare. Mit fünf Spielen im K.o-Modus.
