Heiko Herrlich befindet sich zurzeit in einem längeren Urlaub und damit wohltuend weit weg vom Geschehen bei Bayer 04 Leverkusen. Würde der kurz vor Weihnachten in den vorübergehenden Ruhestand geschickte Fußball-Lehrer täglich erleben, wie die Lage bei seinem vormaligen Arbeitgeber beschrieben wird, hätte er Anlass, ernsthaft gekränkt zu sein. Nicht, weil ihm seine ehemaligen Schüler schlechte Dinge nachsagen, und schon gar nicht, weil Bayer-Sportchef Rudi Völler unvorteilhaft über ihn redet. Sondern wegen der Komplimente, die seinem Nachfolger überall zuteilwerden.
Er sei "neugierig" auf die fußballerische Entwicklung des Teams, sagte Völler, der nach bald 20 Amtsjahren beim rheinischen Konzernverein nicht unbedingt bekannt ist für emotionale Entdeckerlust. Doch vom Auftritt seines neuen Trainers Peter Bosz, 55, den er schon nach wenigen Tagen freundschaftlich beim Vornamen nennt, lässt sich auch Völler motivieren.
Bosz' Idee vom Fußball werde speziell den Leverkusener Spielern entgegenkommen, versichert Völler. Und nicht nur bei ihm klingt es so, als ob man durch den Personalwechsel verschlossene Türen geöffnet hätte. "Bosz entfesselt Bayers Flügelzange", schrieb die Rheinische Post und unterstellte damit Blockaden durch das System des Vorgängers Herrlich. Abwehrchef Sven Bender sieht in der Ideologie des holländischen Fachmanns Bosz sogar Ansichten der beiden führenden deutschen Lehrmeister vereint: Das Pressing erinnere ihn an Jürgen Klopp, das Ballbesitzspiel an Thomas Tuchel, sagte Bender, der in Dortmund das Vergnügen hatte, mit beiden Großmeistern zu arbeiten.
Was ebenfalls gefeiert wird im aktuellen Bayer-04-Diskurs: Dass Bosz den Angreifern Leon Bailey und Karim Bellarabi zu besonderer Geltung in der Drei-Mann-Offensive verholfen habe, indem er ihnen einen Arbeitsplatztausch verordnete. Bailey, 21, soll jetzt vorwiegend über rechts stürmen, Bellarabi, 28, über die linke Seite. Der Jamaikaner Bailey sieht sich schon jetzt als Profiteur der neuen Umstände: "Ich beginne, wieder ich zu sein", sagte er und lobte den entschiedenen Angriffsstil des neuen Trainers: "Das ist meine Art zu spielen." Die Erfahrungen mit Heiko Herrlich seien für Bailey nicht gut gewesen, berichtete dessen Berater Craig Butler - Gleiches dürfte allerdings umgekehrt Herrlich für sich reklamieren. Unter seiner Aufsicht hatte Bailey 2017 einen extrem vielversprechenden Karrierefortschritt begonnen, bevor er im Januar 2018 in ein Leistungstief geriet, das noch im Dezember 2018 stabil Bestand hatte.
Vorsicht ist also geboten vor dem vorerst nur herbeigeredeten Aufschwung bei Bayer 04. Dieter Hecking, Trainer des ersten Leverkusener Rückrundengegners Borussia Mönchengladbach (Samstag), äußerte sich überraschend polemisch über die Kunde vom positiven Stimmungswandel bei Bayer. Bei all dem vorgezeigten Optimismus sei er "gespannt darauf, ob sie so gut sind, wie sie tun".
Und noch ein Beteiligter rät erst mal zur Zurückhaltung: "Die ersten zwei Wochen, das sind die Heiratswochen", gibt ein Bayer-Vertreter in Anspielung auf einen Spruch in seinem Heimatland zu bedenken. Denn natürlich weiß Peter Bosz, so heißt dieser Kenner, aus seinem 1981 bei Vitesse Arnheim begonnenen langen Profifußball-Leben, dass der Ernstfall zügig alles ändern kann in den ehelichen Beziehungen. Bisher hätten Trainer und Spieler bloß unverbindlich miteinander geturtelt, meint er, "aber jetzt beginnen die Spiele", erst jetzt drohten Enttäuschungen, schlechte Ergebnisse und die Unzufriedenheit der Reservisten.
Aus seiner ereignisreichen, aber kurzen Liaison mit Borussia Dortmund bringt Bosz Erfahrungen und Einsichten in persönliche Fehler mit, die ihm in Leverkusen behilflich sein sollen. Die Zeit zwischen den beiden Engagements wusste er zu nutzen: Er habe "viel geschlafen", erwiderte Bosz gut gelaunt, als er am Freitag auf die 15 Monate ohne Anstellung angesprochen wurde. Die unfreiwillige Auszeit scheint er genossen zu haben. Wenn er sich denn aus dem Bett erhob, sah er offenbar eine Menge Fußballspiele, wobei er es vorzog, im Wohnzimmer zu bleiben, statt ins Stadion zu gehen. So habe er manchmal vier, fünf Spiele am Tag gesehen, erzählte er. Ab und zu reiste er ins Ausland, nach England oder Dänemark, um mit "interessanten Kollegen" zusammenzutreffen. Bis sich die Leverkusener wieder bei ihm meldeten.
Bosz und Bayer hatten schon vor anderthalb Jahren miteinander gesprochen. Bevor es ernst wurde, kam aber Dortmund dazwischen. Der Eindruck, den er damals von dem rheinischen Verein hatte, war ein durchweg positiver, und den sieht Bosz auch jetzt bestätigt: "Sie hatten immer schon gute Spieler."
Davon ist auch das Bayer-Management nach wie vor überzeugt, obwohl die Leistungen während der Hinrunde viel Unzufriedenheit erzeugten. Platz neun ist Ausdruck eines Leistungsstands, der nicht mal gehobenem Mittelmaß entsprochen hatte. Peter Bosz hat verstanden, dass er nicht nur den Auftrag hat, am Tabellenstand zu arbeiten: "Bayer 04 will offensiven, attraktiven und dominanten Fußball sehen, deshalb haben sie mich gefragt, ob ich hier trainieren möchte", sagt er. Spitzenfußball musste Bayer bisher der Konkurrenz überlassen, sämtliche Spiele gegen die Konkurrenten von Platz eins bis sieben gingen verloren.