Bob: Unfall am Königssee:Bei Rot in die Bahn geschickt

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Nach einem schrecklichen Unfall auf der Bobbahn am Königssee musste die Russin Irina Skworzowa 20 Mal operiert werden. Doch die Sportverbände schweigen. Ein Besuch im Krankenhaus.

Johannes Aumüller

Die Erinnerung endet mit den Worten "Jetzt startet ihr". Irina Skworzowa weiß nicht mehr, wie sie mit ihrer Pilotin Nadjeschda Filina in den Bob stieg. Wie sie auf der Bahn am Königssee die ersten Kehren nahmen. Wie sie in einer der letzten Kurven umkippten und Richtung Ziel schlitterten. Und wie ein zweiter Bob angerauscht kam, der mit voller Wucht die hinten sitzende Skworzowa erfasste und so eine Tragödie verursachte. Die Erinnerung setzt erst wieder ein, als sie zwei Monate später im Münchner Klinikum Rechts der Isar aufwacht und neben sich ihre Mutter sieht.

Ein schwerer Unfall auf der Bobbahn am Königssee hat die Träume von Irina Skworzowa zerstört. (Foto: Foto: AP)

Am 23. November gab es den Zusammenstoß, tagelang kämpfte die Russin mit dem Tod, wochenlang lag sie im künstlichen Koma, monatelang musste sie immer wieder in den Operationssaal. Große Teile von Bauch, Rücken, Hüfte und Beine waren verwundet, die Haut verbrannt, in mehr als 20 Operationen rekonstruierten die Ärzte Knochen, bekämpften Infektionen und schlossen offene Stellen. Eine Amputation des rechten Beines konnten sie verhindern, doch sehr wahrscheinlich wird es für immer gelähmt bleiben.

Skworzowa liegt auf der Intensivstation 6/6, Zimmer vier. Vom Hals abwärts bedecken weiße Tücher ihren Körper, nur der Kopf mit den dunkelblonden Haaren schaut heraus. Sie versteht alles, was um sie herum passiert, spricht Russisch mühelos und mit den Ärzten manchmal "Schulenglisch", wie sie sagt. 21 Jahre ist sie erst alt, sieht aber viel älter aus. Über ihr hängen Fotos von Mama Galina und Bruder Jurij, rechts liegt eine Plüschgiraffe, links ein Stoffmeerschweinchen. So ist es wenigstens ein bisschen behaglich, wenn sie über all das nachdenkt. Über ihr Leben, den Sport, den fürchterlichen Unfall.

Mit zwölf hatte Skworzowa mit dem Sport begonnen, Leichtathletik, so wie ihre Eltern, 200 Meter. Sie war schnell, und weil Schnelligkeit auch im Bobsport wichtig ist, wechselte sie mit 18 die Disziplin. Jetzt ist sie in ihren ersten Europacup-Saison, in vier Jahren wollte sie in der Weltspitze sein, passend zu Olympia in Sotschi, in ihrem Heimatland. Doch Bobfahren, Sotschi, Olympia - das ist vorbei. "Ich bin schockiert", sagt Skworzowa. "Ich bin noch nie gefahren, wenn die Ampel rot war. Der Verantwortliche muss doch wissen, dass man nicht fahren darf, wenn die Ampel rot ist."

Die rote Ampel. Dass Filina/Skworzowa losfuhren, obwohl das Signal Rot zeigte, ist der Grund für die Tragödie. Wie es dazu kommen konnte, ist eine Verkettung vieler unglücklicher Umstände, eine menschliche Fehlentscheidung - und Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen.

Im Bobsport können unerfahrene Athleten im Training einen Zusatzlauf absolvieren. Der beginnt aber nicht am normalen Start, sondern weiter unten, am Jugendstart S1. Die Teamführersitzung entscheidet, dass an diesem Tag fünf Schlitten eine Extrafahrt bekommen, darunter auch Filina/Skworzowa. Als Dritte sind sie dran, doch nach der Fahrt der beiden ersten Bobs sind die Russinnen nicht da. Sie sind versehentlich zu dem oberen Start gegangen, werden ausgerufen und laufen hektisch zu S1.

Der vierte und der fünfte Schlitten sind mittlerweile gefahren, und als das Duo bei S1 steht, heißt es, das Kommando "Russland, Bahn frei" sei erteilt worden. Die Russinnen starten - trotz roter Ampel. Doch zugleich vernimmt am normalen Start ein russischer Männer-Bob, der dort nur steht, weil der geplante Bob kurzfristig passen muss, das Kommando - und weil das Signal auf Grün steht, fährt er los und die Katastrophe ist unausweichlich. Denn anders als auf einer Formel-1-Strecke gibt es keine Möglichkeit, eine Gefahr zu signalisieren oder einer Gefahr auszuweichen.

Auf der nächsten Seite: Warum Skworzowa denkt, dass die Verbände auf die Sportler spucken und sie sich einen Laptop organisiert hat.

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Wer ist schuld an der Tragödie? Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen noch nicht abgeschlossen, weil eine ärztliche Diagnose über die zu erwartenden Folgeschäden fehlt, aber einen Beschuldigten ausgemacht. Filina und andere russische Zeugen erklären, sie seien von einem Mitarbeiter des Weltverbandes in die Bahn gewunken worden. Dieser Mitarbeiter aber sagt, er habe niemanden in die Bahn gewunken, weil er das gar nicht hätte tun dürfen. In die Bahn winken dürfe nur der Startleiter, er sei nicht der Startleiter gewesen, sondern habe nur darauf geachtet, dass wie besprochen fünf Bobs ihren Lauf absolvieren.

Im Kern geht es um die Frage, wer den Bob die rote Ampel überfahren ließ. Doch es dürften bald auch andere Punkte diskutiert werden: Denn Skworzowa hat eine Schadensersatzklage angekündigt, und diese Klage dürfte in die Millionen gehen. Es ist aber noch unklar, gegen wen sie sich richtet. Gegen den strafrechtlich Beschuldigten? Gegen den deutschen Bobverband BSD? Gegen den Weltverband? Die Beteiligten schieben die Schuldfrage einander zu, unter Umständen droht ein langes zivilrechtliches Verfahren.

Einen Vorgeschmack darauf erlebt Skworzowa schon jetzt. Es wurde zwar ein Spendenkonto eingerichtet, aber darüber hinaus hat sie keine Unterstützung wegen der bisher angefallenen Kosten bekommen. Stattdessen flogen ihre Anwältin Anja Winter und eine Mitarbeiterin des russischen Teams nach Moskau, um dort um 400.000 Euro zu bitten.

BSD-Rechtsreferent Norbert Hiedl bedauert das: "Unabhängig von allen Haftungsfragen muss man der Sportlerin helfen und auch finanziell in Vorleistung treten", sagt er. Doch aus rechtlichen und organisatorischen Gründen sei das bisher nicht zustande gekommen. Er hoffe, dass nun in Vancouver, wo alle Beteiligten zugegen seien, eine Lösung gefunden werde.

Diese Situation trägt dazu bei, dass Skworzowa sauer wird, wenn es um Bobsport-Offizielle geht. "Von den Verbänden war noch niemand hier", sagt sie. "Die Verbände spucken doch nur auf die Sportler. Sie denken nur an die Medaillen. Das ist das Allerschlimmste." Dafür ist die Aufmerksamkeit in der russischen Öffentlichkeit umso größer. Schon mehrere Fernsehsender waren da, am Samstag kam sogar Außenminister Sergej Lawrow vorbei. Das Sportministerium sicherte ihr zu, sich um einen Arbeitsplatz zu kümmern.

Doch so weit denkt Skworzowa noch nicht. Sie hat derzeit zwei Wünsche. Erstens: so schnell wie möglich die Reha-Maßnahmen durchlaufen und nach Moskau zurückkehren zu können. Und zweitens: in den nächsten Tagen etwas mehr fern zu sehen, wenn in Vancouver die Bob-Medaillen vergeben werden. Einen Fernseher gibt es in Zimmer vier der Intensivstation 6/6 nicht, aber einen kleinen Laptop mit TV-Karte hat Irina Skworzowa schon organisiert.

Das Spendenkonto für Irina Skworzowa: Sparkasse Berchtesgadener Land Kontonummer: 300 004 BLZ: 71050000 Kennwort: Irina

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