Leichtathletik:Ein Sprinter ohne Unterschenkel kämpft um Olympia

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Blake Leeper hofft, dass von seiner Geschichte viele Menschen profitieren. (Foto: imago/ZUMA Press)
  • Der US-Athlet Blake Leeper will als Sprinter ohne Unterschenkel zu Olympia.
  • Die Beweispflicht, dass die Prothesen keinen Vorteil bringen, liegt beim Athleten.
  • Aktuell ist der Sportler weder für paralympische noch für olympische Wettbewerbe zugelassen.

Von Sebastian Fischer

Am Start lief Blake Leeper noch langsamer als seine Gegner auf zwei Beinen. Nach der ersten Kurve begann eine Aufholjagd, so schnell, dass es für den Weltverband der Leichtathletik zum Politikum werden könnte; zum nächsten Kapitel einer komplizierten Geschichte.

Leeper, Sprinter auf zwei Prothesen unterhalb der Knie, wurde besser, umso länger das Rennen im Finale über 400 Meter bei den US-Meisterschaften im vergangenen Sommer dauerte. Im Ziel war er Fünfter. Er verließ die Bahn in der Hoffnung, zur 4x400-Meter-Staffel der USA bei den Weltmeisterschaften in Katar zu gehören.

Leeper, vor 30 Jahren ohne Unterschenkel in Kingsport im US-Bundesstaat Tennessee geboren, hat im September nicht an der WM teilgenommen. Er durfte nicht, den Regeln des Weltverbands World Athletics gemäß, solange er nicht beweisen kann, dass ihm Prothesen mit Karbonfederfüßen keinen Vorteil gegenüber Menschen auf natürlichen Beinen verschaffen. Doch seit er fühlte, wie nah er den schnellsten Amerikanern über 400 Meter kommen kann, ist er noch entschlossener, 2020 bei den Spielen in Tokio dabei zu sein. Nicht bei den Paralympischen, sondern bei den Olympischen. Als zweiter amputierter Läufer nach Oscar Pistorius 2012 in London.

Beim Start im Nachteil, danach im Vorteil

Leepers Bestzeit, 44,38 Sekunden, ist eine Sekunde schneller, als es die von Pistorius war. Es ist die schnellste je gelaufene Zeit eines Menschen ohne Beine über 400 Meter. Es ist aber kein paralympischer Weltrekord, was die Geschichte noch etwas komplizierter macht. Auch nach paralympischen Regeln werden seine Leistungen derzeit international nicht anerkannt.

Es könne sein, dass er ein Läufer ohne Startklasse sei, sagt Leeper am Telefon in Kalifornien. "Ziemlich cool, oder?", fragt er und lacht. Dann sagt er: "Es ist auch traurig." Er werde nicht aufgeben, "so oft ich auch noch ein Nein hören mag." Von seiner Geschichte, meint er, "können viele Menschen auf der ganzen Welt profitieren".

Die Vergleichbarkeit vom Laufen auf Karbonprothesen und auf natürlichen Füßen ist eine der umstrittenen Fragen der modernen Leichtathletik. Sie war es schon 2008, als Pistorius beim Internationalen Sportgerichtshof Cas sein Startrecht bei Olympia erstritt. Ein Gutachten an der Sporthochschule Köln, in Auftrag gegeben vom Leichtathletik-Weltverband, war zuvor zum Ergebnis gekommen, dass es sich um zwei verschiedene Bewegungsformen handele. Karbonfedern verlieren beim schnellen Laufen bei Aufprall und Abstoß weniger Energie als ein menschliches Sprunggelenk; eine Prothese wird nicht müde.

Das gängige Verständnis in der Sache ist, vereinfacht ausgedrückt, dieses: Am Start haben Läufer auf Prothesen Nachteile. Auf der Geraden haben sie Vorteile. Sie starten langsamer und werden schneller. Ob sich Vorteile und Nachteile aufwiegen, wird verschieden interpretiert.

2008 folgte der Cas einem Gegengutachten, das Pistorius' Klage gegen sein Startverbot voranbrachte: Er habe keinen Vorteil. Es war ein umstrittenes Urteil, nach einer als emotional beschriebenen Verhandlung. Es sei kein Präzedenzfall, hieß es. Womöglich aus Respekt vor der rasanten Entwicklung des Prothesensports.

Blake Leeper ist ein Mann mit einnehmendem Lachen. Er kann gut erzählen, ist nicht nur Athlet, sondern laut Instagram-Profil auch Motivationsredner. Seine Biografie beinhaltet noch mehr Wendungen als die vieler paralympischer Athleten, die mit Behinderung Höchstleistungen vollbringen, damit Menschen inspirieren und Vorbilder in der Gesellschaft sind. Leeper spricht auch über zu viel Alkohol und zu wenig Professionalität in seiner Vergangenheit. Seine Geschichte ist eine über ein Comeback, wie es die Amerikaner lieben.

Bei den Paralympics 2012 gewann er Silber über 400 Meter hinter Pistorius. Seine Oma, erzählt Leeper, habe nach dem Rennen im Stadion in London den berühmten Südafrikaner angesprochen: In vier Jahren in Rio gewinnt mein Enkel gegen dich. Doch dazu kam es nicht. Pistorius sitzt im Gefängnis, wegen Mordes an seiner Freundin. Leeper wurde 2015 gesperrt, nach einem positiven Doping-Test auf Benzoylecgonin, ein Abbauprodukt von Kokain. "Das war mein Tiefpunkt", sagt er.

Seine Großmutter starb, ohne dass er ihren Wunsch erfüllen konnte. Nach seiner Rückkehr - geläutert, wie er sagt - war er 2017 der erste beidseitig amputierte Läufer, der bei den US-Meisterschaften gegen nicht behinderte Konkurrenz antrat. Dass er ein begnadeter Sportler ist, steht außer Frage.

Ein Athlet mit Prothese ist quasi schuldig, bis er seine Unschuld beweisen kann

Wenn man ihn fragt, ob er einen unfairen Vorteil habe, sagt er: "Ich wurde ohne Beine geboren. Ich wache manchmal morgens auf und meine Stümpfe sind geschwollen, sie bluten. Ich muss zur Toilette kriechen." Wenn er so argumentiert, kann ihm niemand widersprechen. Doch Leeper weiß, dass es komplizierter ist. Er hat die Wissenschaftler und Anwälte an seiner Seite, die schon für Pistorius stritten.

Im August 2018 lief Leeper an der Universität Colorado wie im Labor. "Wir haben alles gemessen, was wir messen konnten", sagt Alena Grabowski von der dortigen Fakultät für Integrative Physiologie, eine der Renommiertesten ihres Fachs. Sie leitete die Studie, die Leeper nach Tokio bringen soll. Dass das ihr Ziel sei, sagt sie offen. Dafür arbeite sie kostenlos.

Über die Ergebnisse, die World Athletics vorliegen, will sie noch nicht sprechen. Im Vergleich zu Pistorius, sagt sie, "sind wir weiter gegangen. Wir haben mehr Maße erhoben, die Einfluss auf die Leistung haben".

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Wenn Grabowski, deren Forschung von manchen Fachkollegen mitunter kritisch betrachtet wird, ihren Standpunkt erklärt, nutzt sie einen Vergleich, eine Vereinfachung: Eine Feder allein könne nie so gut funktionieren wie eine Feder mit Motor, einem Sprunggelenk. Diese These zu belegen, ist inzwischen aber schwieriger als im Fall Pistorius. Die Regel ist eine andere.

Die Vergleichbarkeit von Athleten mit und ohne Behinderung war zuletzt 2014 ein großes Thema. Da gewann der Weitspringer Markus Rehm, an seinem Absprungbein unter dem Knie amputiert, die deutschen Meisterschaften gegen die besten Weitspringer auf zwei Beinen und stritt für sein Teilnahmerecht an olympischen Wettkämpfen. World Athletics ergänzte sein Regelwerk im Jahr darauf um den Passus 144.3 (d), wonach Sportlern jede "mechanische Hilfe" untersagt ist, sofern sie nicht nachweisen können, dass ihnen diese Hilfe keinen Vorteil verschafft. Die Beweispflicht liegt nicht mehr beim Verband, sondern beim Sportler. Und der muss nun etwas nachweisen, das nicht existiert. Ein Athlet mit Prothese ist quasi schuldig, bis er seine Unschuld beweisen kann. "Es ist unfair, es ist absurd", sagt Leeper.

World Athletics teilt auf Nachfrage mit, dass sich eine unabhängige Kommission, unterstützt von Experten der Universität Queensland, mit dem Fall Leeper beschäftige. Diese habe eine erste Version ihres Berichts Leeper und seinen Anwälten geschickt und mit Anmerkungen versehen zurückerhalten. Nach ihrem nächsten Treffen, noch in diesem Monat, soll die Kommission ihren Bericht fertigstellen.

Um den Olympiatraum von Weitspringer Rehm, 31, wurde es irgendwann ruhiger. Ein Gutachten, das er 2016 vorlegte, konnte nicht zweifelsfrei zeigen, dass er keinen Vorteil hat. Bei der WM der Para-Leichtathletik in Dubai im November gewann er sein fünftes WM-Gold in Serie. Er hat oft betont, dass er immer auch ein paralympischer Athlet bleiben will. Leeper dagegen fehlte bei der Para-WM. Es ist der Teil der Geschichte, der den Fall für ihn noch komplizierter macht.

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2018 hat das Internationale Paralympische Komitee (IPC) seine Regeln für die Prothesenlänge für beidseitig amputierte Sportler geändert, die erlaubte Länge wird mit neuer Messung ermittelt. Es gab den Vorwurf, manche Läufer hätten zu lange Prothesen. Leeper würde durch die neue Messformel kleiner werden.

"Ich werde mich nicht fügen", sagt er. Ein Verband könne ihm nicht sagen, wie groß er zu sein habe. Kürzere, ungewohnte Prothesen seien ein Verletzungsrisiko. Die Messmethodik des IPC ist umstritten, wird auch von anderen Athleten kritisiert. Und überhaupt sei die Annahme falsch, dass man auf längeren Prothesen automatisch schneller sei. Die Schritte seien zwar länger, die Schrittfrequenz aber nicht so hoch wie auf kürzeren Prothesen. Grabowski stützt diese These in ihren Studien. Leeper läuft weiter wie zuvor, mit einer Körpergröße von rund 1,87 Meter. Seine Zeiten bleiben so auch vom paralympischen Weltverband unbestätigt. Nach neuer Formel wurde er nie klassifiziert. Seine letzte paralympische Medaille war WM-Silber 2013.

"Das versteht keiner, was er da gerade macht"

Bei der WM im November in Dubai gewann über 400 Meter Johannes Floors, 24, von Bayer Leverkusen Gold, in 45,78 Sekunden, mit großem Vorsprung. Offiziell ist er Weltrekordhalter, schnellster Mann der Welt auf Prothesen. Er ist ein Befürworter der neuen Formel, durch die er selbst nicht viel an Größe verlor. Er wehrt sich gegen das Stigma "Stelzenläufer". Die habe es nur vor der Regeländerung gegeben. Er wünscht sich starke Konkurrenz. Allerdings sei Leeper mit seinen nach alter Regel vermessenen Prothesen "viel zu groß".

Als Floors nach seinem Gold-Lauf gefragt wurde, ob er auch eines Tages wie Pistorius bei Olympia starten wolle, sagte er, dass er aktuell nur daran denke, ein paralympischer Athlet zu sein. Auch deshalb, "weil wir da andere Werte vertreten".

Leeper war in Dubai unter den Sportlern ein Thema. "Das versteht keiner, was er da gerade macht", sagte David Behre, ein anderer Leverkusener 400-Meter-Läufer, Silbermedaillengewinner bei den Paralympics 2016, der durch die Regeländerung auf kürzeren Prothesen rund zehn Zentimeter kleiner als vorher ist, "laufen neu lernen" musste, wie er sagt - und nun vorerst nicht mehr zur Weltspitze zählt.

Schon die Olympia-Ambitionen von Weitspringer Rehm wurden unter Athleten kontrovers diskutiert. Einerseits trug er einen Kampf für mehr Inklusion aus: ein Athlet mit Behinderung im gleichberechtigten Wettkampf mit Nichtbehinderten. Andererseits reagierten nicht alle zweibeinigen Weitspringer begeistert auf den neuen Weltklasse-Konkurrenten. Und es hieß, es sei auf so manchem Sportplatz gar ein neues, recht absurdes Vorurteil aufgekommen: Amputierte Athleten hätten dank ihrer Super-Prothesen ja bestimmt alle einen Vorteil. Behre geht davon aus, dass der Weltverband zu dem Ergebnis gelangt, Leeper nicht starten zu lassen.

Auch Wolfgang Potthast ist skeptisch. Der Sportwissenschaftler vom Institut für Biomechanik und Orthopädie an der Sporthochschule Köln war schon beim ersten Pistorius-Gutachten dabei. Später untersuchte er unter anderem gemeinsam mit Alena Grabowski Anlauf und Absprung von Markus Rehm. Die neue World-Athletics-Regel, nach der ein Sportler seinen Nicht-Vorteil belegen muss, sei "wissenschaftlich schwierig". Eine Nicht-Existenz nachzuweisen sei eigentlich unmöglich.

Darüber hinaus sagt Potthast, dass in Kölner Studien Indikatoren gefunden worden seien, die darauf hinweisen, dass lange Prothesen aufgrund ihres geringen Trägheitsmoments nicht zwingend eine geringere Lauffrequenz nach sich ziehen, während sich die Schrittlängen vergrößern - also sehr wohl einen Vorteil bergen könnten. Er sagt zudem weiterhin, dass es sich beim Sprinten auf natürlichen Füßen und auf Prothesen aus Karbon um zwei verschiedene Disziplinen handele. Er betont seine Hochachtung vor paralympischen Sportlern. Aber: "Was sollen die Wettkämpfe miteinander vergleichen?"

Alena Grabowski in Colorado stellt die Gegenfrage: "Warum ist es so schwer für einen Sportler mit Prothesen, bei den Olympischen Spielen mitzumachen?" Vielleicht seien Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung eines Tages wirklich so weit entwickelt, dass man die Diskussion führen müsse, ob sie einen Vorteil bringen. Doch das sei noch längst nicht der Fall. Sie sei zuversichtlich, dass Leeper Recht bekommt.

Blake Leeper sagt, er werde trainieren, als würde er in diesem Sommer auf der größten Bühne antreten. "Ich will bei Olympia auf dem Podium stehen", sagt er. "Ich will gewinnen."

© SZ vom 11.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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