Johannes Floors bei der WM:Der neue "Blade Runner" der Para-Leichtathletik

Dubai 2019 World Para Athletics Championships; United Arab Emirates, 11.11.2019 Weltmeister ueber 100m: Johannes Floors

Weltmeister, Weltrekordhalter: Johannes Floors nach dem Finale über 100 Meter in 10,60 Sekunden - sechs Hundertstel über seiner Bestzeit.

(Foto: Axel Kohring/imago)
  • Der Leverkusener Johannes Floors ist derzeit der schnellste Sprinter der Welt auf Prothesen.
  • Er vermisst nach einer Regeländerung des Weltverbands Konkurrenz - und sucht sie stattdessen in der Vergangenheit.
  • Den Südafrikaner Oscar Pistorius kann er aber noch nicht erreichen.

Von Sebastian Fischer

Wenn der schnellste Mann der Welt auf Prothesen erklären soll, warum er so schnell ist, dann nimmt er eine Frage vorweg, die ihm oft gestellt wird. Es geht um ein Vorurteil, das ihn nervt. Dass er so schnell ist, sagt Johannes Floors: Das liege nicht an seinen Prothesen.

Floors, 24, der an beiden Beinen unter den Knien amputierte Sprinter vom TSV Bayer 04 Leverkusen, ist bei den Weltmeisterschaften der paralympischen Leichtathletik in Dubai Weltrekord über 100 Meter gelaufen, 10,54 Sekunden im Vorlauf. Am Montag ist er Weltmeister geworden, es war sein fünfter WM-Titel. Seiner Bestzeit zufolge ist er an diesem Freitag auch hoher Favorit auf Gold über 400 Meter, seine Lieblingsstrecke. Es ist eine Strecke mit besonderer paralympischer Tradition. Diese Tradition ist für Floors auch ein Problem.

Bei den Paralympics 2012 gewann über 400 Meter in der Startklasse T43, die heute T62 heißt, Oscar Pistorius. Den Südafrikaner, der als erster beidseitig Amputierter auch bei Olympia startete, nannte man "Blade Runner", weshalb Floors nun oft "neuer Blade Runner" genannt wird, ihm schmeichelt der Vergleich. Doch in der Zeit nach Pistorius, der wegen Mordes an seiner Freundin im Gefängnis sitzt, standen die 400 Meter der beidseitig Amputierten auch für Läufer, die mit sehr langen Prothesen sehr schnell liefen.

Floors' größte Konkurrenten fehlen bei der WM

"Manche Athleten stoßen beim Sitzen mit dem Knie an die Nase, weil der Unterschenkel so lang ist", sagte 2016 Heinrich Popow, der inzwischen zurückgetretene, stets meinungsstarke deutsche Paralympics-Sieger. Um dem Vorwurf des "Techno-Dopings" zu begegnen, änderte das Internationale Paralympische Komitee (IPC) 2018 die Regeln für Prothesenlängen. Seitdem ist vieles anders.

Bei der WM in Dubai fehlt der US-Amerikaner Blake Leeper, der auf zwei Prothesen so schnell ist, dass er sich bei den US-Trials für die Staffel bei der WM der Nichtbehinderten qualifizierte. Er will der nächste Pistorius sein, als Amputierter bei den Olympischen Spielen in Tokio laufen. Er durfte zuletzt bei der WM in Katar nicht teilnehmen, da der Leichtathletik-Weltverband seinen Fall noch prüft: Leeper muss beweisen, dass er mit seinen Prothesen keinen Vorteil hat. Bei paralympischen Wettbewerben will er vorerst nicht mehr mitmachen. "Ich werde mich nicht fügen", sagt er am Telefon, die Regeländerung sei "vollkommen unfair". Er läuft weiter auf langen Prothesen. Leeper habe sich nie neu klassifizieren lassen, heißt es vom IPC. Seine Zeiten bleiben deshalb vom Verband unbestätigt.

In Dubai fehlen zwei weitere schnelle Amerikaner, dem US-Verband zufolge angeblich deshalb, weil sie sich auf den College-Sport konzentrieren; außerdem ein schneller Brasilianer. "Es ist ein riesiges Problem", sagt Floors, der sich bei den Paralympics 2020 ein hochklassiges Rennen wünscht. "Ich habe die kleine Hoffnung, dass sie in Tokio wiederkommen."

Floors sucht sich seine Gegner in der Vergangenheit

Nach alter Regel wurde die Körpergröße bei der Klassifizierung durch Messungen an Armen und Oberkörper bestimmt; nach neuer werden die Sitzhöhe sowie die Oberschenkel, Ober- und Unterarme gemessen. "Die Formel an sich ist gut", sagt Floors, aber das IPC habe "beim Ausmessen Mist gebaut und viele zu klein gemacht".

Das Dilemma zeigt sich anschaulich am Fall des deutschen Sprinters David Behre. Nach alter Formel durfte er (mitsamt seiner Prothesen) 1,91 Meter groß sein, nach neuer 1,78 Meter. Auch Behre befürwortet die Reform, aber beklagt, dass sie dilettantisch umgesetzt worden sei, mit falschen Messungen durch Ertasten der Knochen. "Ich bin nach wie vor sehr enttäuscht", sagt er. "Aber was bleibt mir für eine Alternative?" Eine Klage gegen die Messung sei kaum aussichtsreich und langwierig. Er ist 33, im kommenden Jahr will er seine Laufbahn beenden. In Dubai wollte er statt über 400 nur über 100 Meter starten, die Finalteilnahme war sein Ziel. Auf kürzeren Prothesen habe er das Laufen neu lernen müssen, sagt er, "natürlich fehlt mir Geschwindigkeit". Er sagte seine Teilnahme in Dubai erkrankt ab.

Floors, der durch die neue Messung rund einen Zentimeter kleiner wurde und mit einer Größe von 1,81 Meter läuft, ist nun in der paradoxen Situation, dass er sich die Konkurrenz von früher zurückwünscht, aber weiter gegen deren Stigma kämpft. Wenn man ihn "Stelzenläufer" nennt, dann sagt er, die habe es früher gegeben, jetzt nicht mehr. Es störe ihn sehr. "Stelzen haben die Clowns im Zirkus."

Floors, mit einem Fibula-Gendefekt geboren, entschied sich mit 16 Jahren für eine Amputation, er hatte kein Wadenbein, deformierte Füße und Schmerzen, war im Alltag eingeschränkt. Er nennt es ein "Gefühl von Freiheit", wenn er von seiner Amputation erzählt, er spricht darüber geduldig und mit Verständnis für jede Frage. Dass die Interviews immer mehr werden, findet er "cool". Er sagt: "Es ist auch wichtig, dass man die Aufmerksamkeit nutzt, um den Sport weiter publik zu machen."

"Ich zeige ja, dass man keine Riesenbeine braucht", sagt Floors

Floors, der seit 2013 für Leverkusen startet, studiert Maschinenbau. Das Verhältnis zwischen der Zeit fürs Lernen und dem Sport, den er quasi professionell betreiben kann, beziffert er derzeit auf zehn zu 90 Prozent. Dass er so schnell läuft - auf zwei unveränderten Prothesen, wie er sagt - erklärt er mit der Möglichkeit, mehr und aufwendiger zu trainieren. Er habe an seinem Start gearbeitet. Wenn man sich seinen Weltrekordlauf ansieht, dann ist es erstaunlich, wie schnell er in seinen Rhythmus findet. 100 Meter bei den Paralympics galten lange als Metier der einseitig Amputierten, die über die Distanz mit beidseitig Amputierten gemeinsam laufen. Mit nur einer Prothese kann der Start theoretisch leichter fallen. "Ich beweise das Gegenteil, das ist ziemlich cool", sagt Floors.

Bei den Paralympics in Rio de Janeiro 2016 lief er die 100 Meter noch in 11,34 Sekunden, seine Entwicklung nennt er selbst "gigantisch". Wenn man ihn fragt, wie sie weitergeht, wie sich ganz allgemein eine Sportart wie die paralympische Leichtathletik mit rasantem technischen Fortschritt entwickeln werde, dann sagt er, dass er glaube, seine 100-Meter-Zeit, gelaufen bei besten Bedingungen, nicht so schnell verbessern zu können. "Vielleicht komme ich jetzt auf ein Leistungsplateau."

Den US-Amerikaner Leeper, der bei Olympia dabei sein will, sieht er skeptisch. Floors will Athlet nach paralympischen Regeln sein. "Ich zeige ja, dass es geht, wenn man kleiner ist, dass man keine Riesenbeine braucht", sagt er. Wenn ihm in der Gegenwart die Gegner fehlen, sucht er sie eben in der Vergangenheit. Die 400-Meter-Bestzeit von Oscar Pistorius lag bei 45,07 Sekunden. Floors' Bestzeit ist 1,58 Sekunden langsamer.

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