Start der Biathlon-Saison:Die Wut ist silbern

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"Ich dachte mir diesmal nicht: Ich muss! Ich muss! Sondern ich hab's laufen lassen." - Vanessa Hinz im Einzelrennen bei der WM 2020. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty)

Ein Zornesausbruch, ein Befreiungsschlag und der ersehnte Erfolg: Biathletin Vanessa Hinz hat eine Entwicklung durchgemacht, die ihr nun neuen Schub geben könnte.

Von Saskia Aleythe

Vor ein paar Monaten ist das Wohnzimmer von Vanessa Hinz noch ein bisschen gemütlicher geworden, gewissermaßen um ein paar Glücksgefühle reicher. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass die Biathletin zu Hause in Ruhpolding auf dem Sofa sitzt und ausdauernd ihre WM-Medaille anstarrt, aber ein willkommener neuer Einrichtungsgegenstand ist das Silber aus Antholz schon. "Man schmunzelt, wenn man daran vorbei geht und dann werden wieder Erinnerungen wach", sagt die 28-Jährige; es sind Erinnerungen an einen Tag, der sie reich beschenkt hat und das deutsche Biathlon gleich mit: Auf diesen Dienstag im Februar kann man sich jetzt immer berufen, wenn es um die Erfolgschancen im Team geht.

Wie Hinz damals nach dem Einzel im Ziel im Schnee hockte, ausgepumpt und trotzdem noch mit genügend Energie, um die Faust mehrmals auf den Boden zu klopfen; wie sie später den Tränen ungehindert ihren Lauf ließ - das waren Bilder, die den Sommer überdauert haben und mit dem Start in die neue Saison wieder etwas lebendiger werden. Am Samstag geht es für die Biathleten in Kontiolahti in Finnland ins erste Rennen des Winters, die sportlichen Vorzeichen sind ähnlich wie in der abgelaufenen Saison: Denise Herrmann ist immer noch verdammt schnell und wird bei ausreichender Schusssicherheit wohl öfter um Podestplätze kämpfen, doch nun geht eben auch Vanessa Hinz mit dem unsichtbaren Antrieb von einer WM-Medaille an den Start. "So eine Medaille gibt immer Schub", sagt sie, ein paar Erfahrungen diesbezüglich konnte sie schon mit Erfolgen aus Staffelrennen sammeln, doch diesmal hängt da eine Medaille in ihrem Wohnzimmer, die sonst niemandem gehört.

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Die Suche nach dem idealen Antrieb begleitet Hinz schon ihr ganzes Athletenleben lang, sie ist eine emotionale Sportlerin. "Wenn ich mich freue, freue ich mich halt einfach, und wenn ich traurig bin, kriegt man es meistens auch mit", sagt sie. Als vor einem Jahr beim Weltcup in Hochfilzen die beste Deutsche 41. im Sprint wurde und die Staffel nur auf Rang Zwölf kam - zweimal historisch schlechte Ergebnisse - hielt Hinz ihre Enttäuschung über die Kritik in der Post-Laura-Dahlmeier-Ära nicht zurück. Man reiße sich eh schon das ganze Jahr lang den "Entschuldigung, Arsch" auf, sagte sie ins TV-Mikrofon, vom "Draufhauen" werde nun auch niemand schneller. Die Wut rauszulassen hat ihr schließlich geholfen, im Verfolgungsrennen kämpfte sie sich von Platz 42 auf Zwölf nach vorne. "Ich dachte mir diesmal nicht: Ich muss! Ich muss! Sondern ich hab's einfach laufen lassen", sagte sie danach. Genauso lief das dann auch mit ihrem WM-Silber: Einfach machen, nicht groß an Medaillen denken. 19 von 20 Projektilen landeten im Ziel, am Ende fehlten gerade Mal 2,2 Sekunden auf Dorothea Wierer, um sich Weltmeisterin nennen zu können. Und da passte dann ein Spruch von Gerald Hönig, dem ehemaligen Frauen-Bundestrainer, der mal gesagt hatte: "Schießen und Singen kann man nicht erzwingen. Vanessa ist ein typisches Beispiel dafür."

Sie sei keine Stundenklopferin, sagt Vanessa Hinz über sich selbst, "ich bin manchmal vielleicht ein bisschen anders", sie braucht im Sportlerleben auch Auszeiten, bei der Familie am Schliersee, beim Shoppen, mit Kuchen, um sich danach wieder voll für Biathlon begeistern zu können. Den Sommer unter Corona-Bedingungen fand sie super: "Es war total schön, weil ich einfach mal nur daheim war, ich konnte nichts machen, aber mal richtig abschalten ." Selbst aus dem Bänderriss im linken Fuß, der sie Ende August für ein paar Wochen im Training zurückwarf, nimmt sie Positives mit: Sie habe dadurch noch mehr mit dem neuen Schießtrainer Engelbert Sklorz zusammenarbeiten können. "Ich find's richtig gut, dass sie ihn engagiert haben", sagt Hinz, "er sieht verdammt viele Sachen, wo du dir denkst: Ach echt, ist das so?" Sklorz, der auch für die Männer zuständig ist, besetzt damit eine zuletzt vernachlässigte Stelle. Von der WM in Antholz waren die männlichen Athleten ohne Einzelmedaille abgereist, mit vielen Schießfehlern im Gepäck.

Bis zur WM in Pokljuka in Slowenien im Februar wünscht sich Hinz vor allem Konstanz in den eigenen Leistungen. "Die Weltspitze ist ziemlich dicht zusammengerutscht", sagt Frauen-Trainer Kristian Mehringer, was den Kampf um die Podestplätze spannender macht; die Weltcup-Standorte wurden aufgrund der Corona-Beschränkungen reduziert; die Rennen finden fast alle ohne Publikum statt. Die internationale Konkurrenz hat sich im Vergleich zur Vorsaison nicht groß verändert, Weltcup-Gesamtsiegerin Dorothea Wierer setzt ihre Karriere entgegen früherer Überlegungen fort. Dank Corona quasi: "Der Lockdown hat mir wirklich sehr gut getan", sagt Wierer der SZ, die längere Sommerpause habe neue Motivation freigesetzt, beim Start ins Training war sie "nicht so ausgelaugt wie in den letzten Jahren, sondern voller Energie." Abschalten als Erfolgsrezept, das geht am Schliersee wie in Südtirol.

© SZ vom 26.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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