Berliner Derby:Rivalität vom Hörensagen

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Berlin hat endlich ein Hauptstadt-Derby: Erstmals seit 60 Jahren spielen Hertha und Union um Punkte. Derby-Stimmung, wie man sie von Schalke gegen Dortmund kennt, wird jedoch nicht aufkommen.

Boris Herrmann

Es wäre übertrieben, Amerikanisch Samoa als Zentrum des Weltfußballs zu bezeichnen. Die samoanische Nationalelf hat noch nie ein Spiel gewonnen. Ihr 0:31 gegen Australien ist zwar laut Augenzeugen um ein, zwei Tore zu hoch ausgefallen, gleichwohl lässt sich sagen, dass Amerikanisch Samoa zu Recht seit einigen Jahren auf dem letzten Platz der Fifa-Weltrangliste festhängt.

Zuschauer aus beiden Teilen Berlins, wenn auch nur zum Freundschaftsspiel: Im Januar 1990 stehen sich Hertha BSC und Union Berlin im Olympiastadion gegenüber. Hertha BSC gewinnt 2:1. (Foto: dpa)

Wenn man die Erfolgsgeschichte der Nationalelf um den Rekordtorschützen Duane Atualevao (drei Treffer) eine Weile studiert, dann lässt sich in etwa abschätzen, wie lange man in der FFAS Senior League, der höchsten Spielklasse Amerikanisch Samoas, auf einen Doppelpass warten muss. Und doch hat diese Liga einen ganz subtilen Reiz. Fast alle Erstligaklubs kommen aus der größten Insel-Siedlung Pago Pago. Auf Amerikanisch Samoa findet daher jedes Wochenende ein Hauptstadt-Derby statt. Davon kann Berlin nur träumen.

Faszinierende Hauptstadt-Scharmützel

Ein großer Teil der Faszination, die der Fußball auf seine Zuschauer ausübt, liegt in seinem Wiederholungsprinzip. Wenn alte Rechnungen beglichen, hundert Mal erzählte Geschichten erzählt und mündlich überlieferte Feindschaften gepflegt werden, dann wird es richtig interessant. Derbys sind in diesem Sinne die Hochfeste des Fußballs. Hier kapituliert der letzte Rest von Rationalität vor dem Wahnsinn. Hier geht es um die Vorherrschaft im gemeinsamen Wohnzimmer. Um wie viel ärmer wäre diese Welt ohne die Hauptstadt-Scharmützel zwischen Lazio und AS Rom, Real und Atlético Madrid, Arsenal gegen Tottenham in London oder Boca gegen River in Buenos Aires? Wenn Olympiakos auf Panathinaikos trifft, dann ist sogar Athen eine Reise wert. Und wer einmal Austria gegen Rapid Wien gesehen hat, der vergisst nie wieder, dass tatsächlich eine österreichische Fußballkultur existiert.

Nun aber zurück nach Berlin, wo es inzwischen zwar acht Oktoberfeste gibt, dafür aber keinen erstklassigen Fußballklub. Es passt zu dieser ewig unvollendeten Stadt, dass die Charlottenburger Hertha erst aus der Bundesliga absteigen musste, um Berlin jenes langersehnte Duell gegen den Köpenicker Rivalen, den 1.FC Union, zu bescheren.

Es ist lange her, dass die lokale Presse ihre Leser so ausgiebig auf ein einziges Fußballspiel vorbereitet hat. Und es ist ebenso lange her, dass eine Sportveranstaltung in Berlin so ausverkauft war. Nur wer vor der Geschäftsstelle von Union sein Zelt aufgeschlagen hat, konnte sicher gehen, eines der rund 18000 Tickets für das Spiel am Freitag (18 Uhr) in der Alten Försterei zu bekommen. Union hätte locker das vier Mal größere Olympiastadion im Westen füllen können. Aus Glaubens- und Gewissensgründen hat der klamme Klub aber darauf verzichtet. Soviel zum Thema Rationalität.

Heinz Rogge war 23, als sich Union und Hertha letztmals in einem Ligaspiel gegenüber standen. Heute ist er 83 Jahre alt und sagt: "Ich bin ja dann wohl einer der Letzten von die alte Garde." Rogge spielte an jenem 30. April 1950 im Sturm der SG Union Oberschöneweide, aus der später der 1. FC Union wurde. Mit 5:1 haben sie die Hertha aus dem alten Poststadion an der Sektorengrenze gefegt. Rogge, der damalige Torschützenkönig aller deutschen Oberligen, hat vergessen, wie viele Treffer er selbst beigesteuert hat. Seine Erinnerung sagt ihm aber: "Menschen über Menschen kamen damals aus Köpenick in den Westen. Das fand ich schon ungeheuerlich." Es war der letzte Spieltag der gemeinsamen Berliner Stadtliga. Wenig später machte die DDR die Grenzen dicht.

"Ich war einer der ersten, der mit Kind und Kegel rübergemacht hat", erzählt Rogge: "Ich konnte sogar noch Möbel und Briketts mitnehmen." Später sind weitere seiner Vereinskollegen in den Westteil Berlins geflüchtet. Sie haben im Tiergarten den heutigen Bezirksligisten Union06 gegründet. Für eine ordentliche Stadtrivalität mit Hertha war das kein ernstzunehmender Spielgefährte. Und die Unioner aus Köpenick kickten 40 Jahre lang unter Klassenfeinden.

Natürlich hat es hin und wieder mal ein paar Freundschaftsderbys gegeben, allen voran den herzigen Wiedervereinigungs-Gipfel zwischen Hertha und Union im Januar 1990. Wirklich wichtige Stadtduelle sind in Berlin aber so selten wie sanftmütige Busfahrer. Mitte der Siebziger haben Hertha und Tennis Borussia zwei gemeinsame Jahre in der Bundesliga verbracht. Unions letztes großes Derby fand 2005 in der kleinen Oberliga gegen den BFC Dynamo statt, der längst mehr Mitleid als Schrecken verbreitet.

Nur ein Scheingefecht

Wo so wenig gemeinsame Erlebnisse sind, kann auch keine echte Abneigung entstehen. Gemessen an den Stadtrivalen in Hamburg, München oder Turin sind sich die beiden beliebtesten Klubs aus Berlin geradezu freundschaftlich verbunden. Längst gibt es auch in Köpenick Fanklubs der ambitionierten Hertha. Dafür halten die zugezogenen Studenten aller Stadtteile eher zu den bodenständigen Stadionbastlern von Union.

Es hat schon einer verkrampften Ost-West-Debatte zwischen Unions-Präsident Dirk Zingler und dem Berliner Senat bedurft, um das Zweitliga-Derby ideologisch aufzuladen. Union fühlt sich benachteiligt, weil Hertha BSC im Olympiastadion einstweilen mietfrei lebt. Spätestens seit sich Zingler und Bürgermeister Wowereit aber gegenseitig vorrechnen, inwieweit auch Union von der Fürsorge der Stadt profitiert, darf man dieses Scheingefecht als Ulk verbuchen.

Auf dem Platz stehen sich am Freitagabend zwei Klubs gegenüber, die sich eigentlich nur vom Hörensagen kennen. Die Berliner Polizei schickt 600 Einsatzkräfte. Wenn nicht alles täuscht, dann werden sie vor allem mit der chaotischen Verkehrssituation an der Alten Försterei zu tun haben.

© SZ vom 17.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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