Gerade im Sport ist es sinnvoll, bei geschichtsträchtigen Einordnungen den gesunden Menschenverstand anzuknipsen. Allzu schnell werden Geschehnisse historisch, Leistungen maximal, wahnsinnig, galaktisch. Was die Mannschaft des Deutschen Basketball-Bundes (DBB) dieser Tage auf der japanischen Ferieninsel Okinawa geleistet hat, wird zwar bereits nach der Hauptrunde Erwähnung in den Niederschriften dieser Sportart finden. Gewonnen ist freilich noch nichts bei der Basketball-Weltmeisterschaft in Japan, Indonesien und den Philippinen. Noch lange nicht.
Doch das Team von Bundestrainer Gordon Herbert ist auf bestem Wege, den Erfolg aus dem vergangenen Jahr, als Deutschland noch etwas überraschend Bronze bei der Heim-EM gewann, nun bei den Welttitelkämpfen zu überbieten. Nie zuvor hat eine deutsche Basketball-Nationalmannschaft die ersten fünf Spiele bei einer Weltmeisterschaft gewonnen. Und nie zuvor, das ist die wichtigere Erkenntnis, hat ein DBB-Team einen derart starken Eindruck hinterlassen. Der Kanadier Herbert will dennoch weiterhin "nur auf das nächste Spiel" schauen, also das Viertelfinale gegen Lettland. Der Bundestrainer weiß um die Klasse seines Kaders, er weiß aber auch, die Spieler "auf dem Boden zu halten", wie Isaac Bonga nach dem Sieg gegen Slowenien bestätigte.
Eine Strategie, die schon in der Gruppenphase funktionierte: Herbert sprach von einer "Todesgruppe". In Gastgeber Japan, Medaillenfavorit Australien und den bei der EM starken Finnen sah der 64-Jährige starke Konkurrenten, zumal er die Leistungsfähigkeit "meiner Gruppe", wie er sein Team gerne nennt, trotz starker Auftritte in der Vorbereitung nicht final einzuschätzen wusste. "Testspiele sind etwas ganz anderes als WM-Spiele", hatte Herbert geunkt, doch schon der Einstieg ins Turnier gelang prächtig.
Es folgten Siege gegen Co-Gastgeber Japan (81:63), das mit neun NBA-Spielern gespickte Australien (85:82) und Finnland (101:75), sowie in den Überkreuzspielen gegen Georgien (100:73) und Slowenien (100:71). Die Ergebnisse und die Art, wie der Ausfall von Schlüsselspieler Franz Wagner kompensiert wurde, spülte Deutschland sogar in den Kreis der Titelanwärter. Am Montag sind die deutschen Spieler dem Flieger in der philippinischen Hauptstadt Manila entstiegen, im Gepäck jene makellose Bilanz und der Favoritenstatus.
Weltmeister Spanien und der Olympiazweite Frankreich sind ausgeschieden, sogar die US-Amerikaner haben schon verloren
Der grandiose Auftritt gegen die hoch eingeschätzten Slowenen um Luka Doncic von den Dallas Mavericks, in dem viele den derzeit weltbesten Basketball-Profi sehen, brachte den Gruppensieg in der Hauptrunde und beeindruckte die Konkurrenz nachhaltig. Zumal zahlreiche Favoriten bereits raus sind oder zumindest Schwächen zeigten. Der EM- und Olympiazweite Frankreich kam nicht einmal über die Vorrunde hinaus, Weltmeister Spanien scheiterte im entscheidenden Überkreuzspiel gegen Kanada und hat ebenfalls das Viertelfinale verpasst. Wie auch Medaillenfavorit Australien oder die Griechen, die freilich ohne ihren NBA-Anführer Giannis Antetokounmpo auskommen mussten.
Selbst die alles überstrahlenden US-Amerikaner haben bereits eine überraschende Niederlage kassiert, der Topfavorit unterlag Litauen mit 104:110, das damit neben den Deutschen als einziges WM-Team bisher ungeschlagen ist. Blöder Nebeneffekt: Weil die Amerikaner als Gruppenzweiter in die erste K.-o.-Runde eingezogen sind, könnte es schon im Halbfinale zu einem Aufeinandertreffen mit Deutschland kommen. Den USA fehlen zwar die ganz großen Namen, das Team rekrutiert sich dennoch ausschließlich aus erprobten NBA-Kräften und bleibt der absolute Titelfavorit. Der Ruf der Unbesiegbarkeit hat sich freilich verflüchtigt, wie selbst US-Sportdirektor Grant Hill dieser Tage gegenüber dem Portal Basketnews.com einräumte: "Diese Ehrfurcht, gegen die großen USA anzutreten, gibt es nicht mehr. Es ist wirklich interessant, wie sehr der Rest der Welt aufgeholt hat."
Deutschland muss nun zunächst im Viertelfinale (10.45 Uhr deutscher Zeit/Mall of Asia Arena in Pasay bei Manila, Liveticker SZ.de und kostenlos auf Magentasport) das Überraschungsteam aus Lettland aus dem Turnier werfen, das sich mit Siegen gegen Frankreich und Spanien viel Respekt erspielt hat. Das kleine Land hatte wohl niemand außerhalb des Baltikums im Viertelfinale erwartet, zumal ihr bester Mann, der in Boston angestellte Kristaps Porzingis verletzt fehlt. Das lettische Team setzt aufs Kollektiv, das stark zu verteidigen weiß und viele gute Distanzschützen hat. In Davis Bertans (Oklahoma) ist immerhin ein NBA-Werfer dabei - trotzdem ist die DBB-Auswahl um Dennis Schröder Favorit.
Am Dienstag bereits treffen die USA in der Runde der besten acht auf Italien, Litauen spielt gegen Serbien. Trainer Svetislav Pesic muss dabei eine schlimme Nachricht verkraften: Borisa Simanic, der im Spiel gegen Südsudan nach einem Schlag auf die Niere verletzt ausschied, wurde nach Komplikationen im Krankenhaus in Manila eine Niere entfernt, wie serbische Medien berichten. Es ist unklar, ob der Flügelspieler vom spanischen Erstligisten Saragossa seine Profikarriere fortsetzen kann. Nach dem Spiel der Deutschen treffen dann noch Kanada und Slowenien aufeinander.
Hinter Franz Wagners Einsatz steht weiter ein Fragezeichen
Offen ist, ob Franz Wagner wieder mitwirken kann. Der 22-Jährige von den Orlando Magic trainiert zwar wieder und wäre eine enorme Verstärkung, allerdings haben die Kollegen auch ohne ihn auf hohem Niveau agiert. Spätestens im Halbfinale aber dürfte eine Rückkehr anvisiert werden.
In Schröder hat Herbert zwar einen der besten Spieler der WM in seinen Reihen, die Mannschaft besticht dennoch durch die Ausgeglichenheit und Breite - und ähnelt damit sogar Gegner Lettland. Gleichwohl mit deutlich mehr individueller Qualität: "Das macht uns aus, dass immer wieder ein anderer in die Bresche springt und jeder seine Rolle im Spiel beiträgt." Trainer Herbert sagt das, er hatte schon vor der WM eine Medaille als Ziel ausgegeben. Er hat also fest vor, ein bisschen Basketball-Geschichte zu schreiben.