Federer bei den Australian Open:Der Magier flucht sogar

Lesezeit: 4 min

Jetzt auch noch gegen Djokovic: Roger Federer in Melbourne. (Foto: Getty Images)
  • Roger Federer wird verwarnt und muss sieben Matchbälle abwehren, um das Halbfinale der Australian Open zu erreichen.
  • Der Schweizer wirkt angeschlagen und gereizt, freut sich aber auf das Duell mit Djokovic.
  • Hier geht es zu den Ergebnissen aus Melbourne.

Von Barbara Klimke, Melbourne

Es passiert selten, dass Roger Federer sich im Ton vergreift. Kaum jemand kann sich auf dem Platz so schnell der Zuneigung seines Publikums versichern wie der große Charmeur des Welttennis. Am Dienstag in Melbourne jedoch hat der beredte, polyglotte Schweizer eine Linienrichterin mit einer Äußerung derart empört, dass diese sich bei der Stuhlschiedsrichterin beschwerte, was Federer prompt eine Verwarnung eintrug. Wegen "verbaler Entgleisung".

So etwas gilt im Tennis als schwere Regelübertretung, egal ob es sich um jemanden handelt, der sich als Gentleman versteht, oder um den letzten Straßenlümmel vom Außencourt. Es entspann sich eine kleine Debatte darüber, in welche Sprache er das verbotene "F"- Wort eingebettet hatte. Englisch? Schweizerdeutsch? "Ein Mix", klärte Federer später ironisch auf. Er habe nicht gewusst, dass "die Linienrichterin Mix spricht". Aber ein Fluch war es, zweifellos.

Federer bei den Australian Open
:"Ich habe das nicht verdient"

Roger Federer gewinnt ein unglaubliches Match: Gegen Tennys Sandgren wehrt er sieben Matchbälle ab - und zieht demütig ins Halbfinale ein. Dort trifft er auf Novak Djokovic.

Gründe gab es zuhauf für den Kontrollverlust. 6:3, 2:6 und 0:2 lag Federer zu diesem Zeitpunkt zurück in seinem Viertelfinalmatch gegen den Amerikaner Tennys Sandgren. Er verschoss leichte Bälle reihenweise, vor allem mit der Vorhand, die er sonst präzise wie einen Laser zum Einsatz bringt. Auch der dritte Satz ging 2:6 verloren. Im vierten Satz hatte Federer insgesamt sieben Matchbälle gegen sich, die er dank Glück und gegnerischer Fehler abschmettern konnte; der Rekord abgewehrter Matchballe bei Grand Slams liegt übrigens bei neun. Und als er sich schließlich doch noch durchgewurstelt hatte - 7:6 (8) im Tiebreak, 6:3 im letzten Durchgang -, da räumte er am Hallenmikrofon ein: "Das habe ich nicht verdient."

Federer ist offenbar körperlich angeschlagen

Die Streuung der Bälle wirkte bedenklich. Noch erstaunlicher war die Tatsache, dass sie von Tennys Sandgren provoziert wurde, einem 28-Jährigen aus Gallatin/ Tennessee, der auf Platz 100 der Weltrangliste steht - und damit außerhalb des Zirkels, in dem der 38 Jahre alte Federer üblicherweise seine Tennis-Bekanntschaften macht. "Ich habe in meinem Leben schon viel Tennis gespielt, aber noch nie gegen Tennys", scherzte er vor der Premiere. Einmal nur, vor zwei Jahren, hatte Sandgren das Viertelfinale eines Grand-Slam-Turniers erreicht, ebenfalls bei den Australian Open. Damals gab es vor allem Aufregung über eine Erklärung, die er öffentlich verlas, um dem Vorwurf entgegenzutreten, er vertrete politische Extremideen.

Federer hatte sich schon bei seiner Ankunft in Melbourne nicht zu den Favoriten gezählt, auch weil seine Hauptrivalen, der Serbe Novak Djokovic und der Spanier Rafael Nadal, sich zu Jahresbeginn mehr Spielpraxis erarbeitet hatten. Der Eindruck hat sich nicht zerstreut: In der dritten Runde lag Federer gegen den Australier John Millman im finalen Tiebreak schon 4:8 hinten und rettete sich - weil der Match-Tiebreak in fünften Satz bis 10 gespielt wird - glücklich noch 4:6, 7:6 (2), 6:4, 4:6, 7:6 (8) ins Ziel. Danach musste er einen Satzrückstand gegen den Ungarn Marton Fucsovics aufholen, und nun auch ein 1:2 gegen Sandgren. Es stellt sich die Frage, ob er gegen Titelverteidiger Djokovic bestehen kann, der den Kanadier Milos Raonic 6:4, 6:3, 7:6 (1) bezwang und auf den der Schweizer im Halbfinale am Donnerstag treffen wird.

Federer ist offenbar körperlich angeschlagen. Er hat am Dienstag die Physiotherapeuten auf den Court gerufen und sich von Schiedsrichterin Marijana Veljovic eine Auszeit wegen akuter Leistenbeschwerden genehmigen lassen. Als Verletzung wollte er das nicht deklariert wissen, eher als "Schmerz und Problem". Er hofft, dass es "nichts Schwerwiegendes" ist.

Aber auch wenn er nach dem jüngsten Befreiungsakt in der Rod-Laver-Arena leicht amüsiert davon sprach, dass er auf dem Platz immer an Zauberei glaube; auch wenn ihn Boris Becker in seiner Eigenschaft als Kommentator bei Eurosport "Houdini" nannte, dürfte feststehen: Es ist womöglich etwas fahrlässig, sich nur auf Magie zu verlassen, wenn er seinen Anspruch über die Zeit retten will, der beste Spieler in der Statistik seines Sports zu sein. Federer hat in seiner Karriere 20 Grand-Slam-Pokale gewonnen seit seinem ersten Wimbledonsieg im Alter von 21 Jahren, so viele wie kein Mann zuvor. Doch die Rivalen rücken näher.

Nadal steht bei 19 Titeln: Der Mallorquiner hat die besten Chancen, schon in dieser Saison die Marke Federers zu erreichen, von der seine Anhängerschaft noch vor nicht allzu langer Zeit annahm, dass sie als Kulturleistung in die Menschheitsgeschichte eingehen werde - wie die Hängenden Gärten von Babylon, das Grabmal des Königs Mausolos, der Koloss von Rhodos und die restlichen der sieben Weltwunder. Und Djokovic ist auch schon bei 16 Pokalen angekommen.

Federer dagegen hat vor zwei Jahren in Australien seine letzte Grand-Slam-Trophäe erobert. Im vorigen Sommer erlebte er, dass ihn im Finale von Wimbledon seine vermeintlich magischen Kräfte verließen, als er das längste Finale, das je bei diesem Rasen-Klassiker gespielt wurde, gegen Djokovic verlor. Noch Monate später bekannte er, wie sehr ihn dies schmerzte. Selbst der Zauber beim Publikum ist nicht immer gleich stark, zumindest die jüngere Generation hat seine Magie kürzlich hinterfragt. Klimaaktivisten forderten ihn auf, sich von seiner langjährigen Partnerschaft mit einer Schweizer Großbank zu distanzieren; er hat darauf mit einem Statement reagiert, in dem er als Vater von vier kleinen Kindern seinen Respekt und seine Bewunderung für die Klimabewegung kundtat.

Am Donnerstag wird er sich im Halbfinale von Melbourne zum insgesamt 50.Mal mit Djokovic messen, der bislang mit 26:23 führt. Als das feststand, hatte der Schweizer seine Gereiztheit schon wieder abgelegt. Das seien doch beste Aussichten, sagte er lachend ins Publikum. Vor allem nach dem Rückstand und den sieben Matchbällen: "Ich sollte", scherzte Federer, "schon Ski fahren sein in der Schweiz."

© SZ vom 29.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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