Phänomen Atalanta Bergamo:Fußball für Wundernächte

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Etablierter Jubler: Robin Gosens, 25, ist ein elementarer Teil des Teams von Atalanta Bergamo. (Foto: Tano Pecoraro/imago images/LaPresse)
  • Atalanta Bergamo trifft im Champions-League-Achtelfinale auf den spanischen Klub FC Valencia.
  • Bergamo hat es dank Trainer Gian Piero Gasperini so weit gebracht. Er lässt für Italien untypischen Fußball spielen.
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Von Sebastian Fischer, Bergamo/München

Es wäre wohl alles anders gekommen. Wahrscheinlich hätte die Gazzetta dello Sport vor zwei Monaten nicht von einer "Nacht der Wunder" geschrieben und Atalanta Bergamo hätte nie das Achtelfinale der Champions League erreicht - wenn Gian Piero Gasperini vor neun Jahren nicht stur geblieben wäre. Der Sommer 2011 war eigentlich als vorläufiger Höhepunkt der Karriere des schon damals grauhaarigen Mannes aus dem Piemont auserkoren: Gasperini übernahm als Trainer Inter Mailand, den Triple-Sieger von 2010.

Ganze fünf Spiele war er dann der Coach von Spielern mit lauter großen Namen: Diego Forlán, Wesley Sneijder, Javier Zanetti. Inter verlor vier Mal. Dann sagte Massimo Moratti, damals der Klubpräsident: "Es ist offensichtlich, dass der Trainer die Mannschaft nicht mehr im Griff hat." Gasperini weigerte sich, auf sein eigenwilliges 3-4-3- System zu verzichten. Er wurde entlassen und galt fortan als Trainer, der im großen Fußball nicht zurechtkommt; als Taktikfetischist, der im Umgang mit Spielern, speziell berühmten, eher kühl ist und fremdelt.

An diesem Mittwochabend spielt nun also Atalanta Bergamo als Außenseiter unter Europas 16 besten Klubs gegen den FC Valencia. Und die Begründung für den überraschendsten Coup dieser Europapokal-Saison hat viel mit Gasperini zu tun - dem 62 Jahre alten Trainer einer Mannschaft ohne große Namen, die er meistens in einem 3-4-3-System aufstellt. "Er ist ein Meister auf dem Platz", sagt Robin Gosens.

Für das Spiel gegen Valencia zieht Atalanta ins San Siro

Der Linksverteidiger Gosens, 25, aus Emmerich am Niederrhein, ist aus deutscher Sicht der Hauptdarsteller dieser Geschichte. Er ist Stammspieler auf der linken Bahn und gilt inzwischen als Kandidat für Jogi Löws Nationalelf. Für die Niederlande könnte er wegen der Herkunft seines Vaters auch spielen. Bevor er in der A-Jugend zu Vitesse Arnheim wechselte, spielte er in der Niederrheinliga. Beim DFB fiel er niemandem nachhaltig auf.

"Eine Scouting-Abteilung, die kleine Spieler wie mich holt und sie groß rausbringt", das hebt Gosens unter anderem hervor, wenn man ihn nach den Gründen für Bergamos Erfolg fragt. Der Klub aus der 120 000-Einwohner-Stadt östlich von Mailand spielt die erste Champions-League-Saison seiner Geschichte. Das Stadion, das der frühere Atalanta-Verteidiger und heutige Unternehmer und Klubpräsident Antonio Percassi 2017 der Stadt abkaufte, wird für neue Ambitionen renoviert, weshalb das Spiel gegen Valencia im San Siro in Mailand stattfindet.

Die Erklärung für Platz drei in der Vorsaison der Serie A und für den Achtelfinal-Einzug ist eher nicht das große Geld. In der Budget-Rangliste der Liga liegt Atalanta klar hinter den Großklubs. Eine Erklärung ist eher die Jugendabteilung, die einst den legendären Libero Gaetano Scirea hervorbrachte und als eine der besten Italiens gilt. Und die von Gosens gelobte Transferstrategie ist in der Tat besonders: So gehört Bergamo zum Beispiel zu jenen Vereinen in Europa, die am meisten Spieler verleihen; aktuell sind es mehr als 50. Die umstrittene Strategie reglementiert der Weltverband Fifa von der kommenden Saison an mit der Begrenzungen auf acht internationale Leihgeschäfte für Spieler ab 22.

Mit dem Blick für versierte Fußballer, die woanders nicht auffielen oder schon abgeschrieben waren, hat Atalanta in den vergangenen Jahren viele Millionen erlöst und die eigene Mannschaft verstärkt. Im Winter wechselte der gebürtige Berliner und frühere Schalker Jugendspieler Lennart Czyborra, 20, nach Bergamo. Allerdings kam der zweite Deutsche im Kader, wie Gosens Linksverteidiger und zuvor bei Heracles Almelo in den Niederlanden, bislang nicht zum Einsatz. Auch die Protagonisten im Team wie der nur 1,65 Meter große, für Verteidiger kaum fassbare Stürmer Papu Gómez, 32, sind eher nicht weltberühmt. Gosens nennt Mario Pasalic, 25, als ein Beispiel für einen Fußballer im Kader, von dem noch zu hören sein wird: Beim 2:1 gegen den Tabellenfünften AS Rom am vergangenen Wochenende, mit dem Bergamo Platz vier festigte, erzielte der vom FC Chelsea geliehene Kroate mit einem Schuss in den Winkel das Siegtor - mit seiner ersten Ballberührung des Abends. Gasperini hatte den Torschützen eingewechselt.

Verteidiger Robin Gosens
:Ein Fußballer, der vieles anders macht

Robin Gosens steht mit Atalanta Bergamo im Achtelfinale der Champions League. Der Außenverteidiger geht einen ungewöhnlichen Weg - und könnte bald in der Bundesliga oder sogar Nationalmannschaft spielen.

Von Sebastian Fischer

Der Schritt vom Mittelklasseklub, der 2010 noch für ein Jahr in die Serie B abstieg, zum Spitzenteam, gelang Bergamo erst unter diesem Trainer, an dessen Fähigkeiten gezweifelt worden war. Nach seiner Entlassung bei Inter 2011 war Gasperini noch zwei Mal bei US Palermo beurlaubt worden (beim zweiten Mal nach nur zwei Spielen) und hatte den FC Genua trainiert, ehe er 2016 in Bergamo begann. 2017 wurde Atalanta bereits Vierter. 2019 spielte das Team die beste Saison der Klubgeschichte und schoss die meisten Tore der Liga.

Weitere Wundernächte sind nicht ausgeschlossen

Auch in dieser Saison ist die Offensive bislang mit 63 Toren deutlich die beste der Serie A, und Bergamos Fußball ist so offensiv und attraktiv, wie es für Italien noch immer sehr untypisch ist. Nach drei Niederlagen zum Auftakt der Champions League, unter anderem einem 1:5 gegen Manchester City, funktionierte dieser Fußball im Herbst dann auch auf höchster Ebene. Es folgten ein Unentschieden gegen ManCity und zwei Siege, im letzten entscheidenden Gruppenspiel gelang ein 3:0 in Donezk - es war jene erwähnte "Nacht der Wunder".

Der Trainerpionier Arrigo Sacchi beschrieb es vor einiger Zeit so: Gasperini verlasse "unsere Orthodoxie, um einen optimistischen, positiven und weltläufigen Fußball zu zeigen". Zu seinen Mitteln gehören angeblich tägliche Trainings-Spielformen im Zwei-gegen-Zwei und Drei-gegen-Drei, zu seiner Taktik gehört Manndeckung auf dem ganzen Feld. Seinen Stil charakterisieren ein hoher Druck auf den Gegner und schnelle Kombinationen.

Gosens hätte im Achtelfinale gerne ein neues Stadion erlebt, das in Valencia kennt er schon. Aber er hat sich auch gefreut, denn die Spanier seien ein "machbarer Gegner". Weitere Wundernächte sind nicht ausgeschlossen.

© SZ vom 19.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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