Trainerwechsel bei Tottenham Hotspur:Zum Abschied kein einziges Wort vom Boss

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Abschied mit Geschrei: Der freigestellte Tottenham-Hotspur-Trainer Antonio Conte. (Foto: Matt Dunham/AP)

Nach seiner furiosen Wutrede gegen Spieler und Klub wird Trainer Antonio Conte bei den Spurs entlassen. Der Italiener hatte keine Lust mehr auf Aufbauarbeit in Tottenham - für Julian Nagelsmann könnte sich indes eine Option auftun.

Von Sven Haist, London

Wie in fast jeder Spielpause der Premier League oder manchmal sogar an einzelnen trainingsfreien Tagen, flog Antonio Conte, der Trainer von Tottenham Hotspur, auch diesmal heim zu seiner Familie nach Turin. Den Kurztrip aus der Vorwoche protokollierte die Boulevardzeitung Daily Mail mit einem Video, das den Italiener im Flugzeug der Billiglinie Ryanair zeigte. Gemeinsam mit seiner Frau hatte sich Conte zu Beginn seines Tottenham-Engagements im November 2021 entschieden, allein nach London in ein Stadthotel umzusiedeln, um die Schulausbildung der Tochter nicht zu stören.

Die familiäre Situation hielt den bekennenden Workaholic, der Spielern und Klubchefs ebenso viel abverlangt wie sich selbst, zwar nicht von der Arbeit ab. Aber sie veranschaulichte, dass Conte, 53, der bis auf zwei Spielzeiten beim Tottenham-Stadtrivalen Chelsea (2016 bis 2018) bisher seine gesamte Spieler- und Trainerkarriere in Italien verbracht hatte, bei den Spurs nie wirklich heimisch wurde. Und jetzt muss er gar nicht mehr nach England zurückreisen, die Vorbereitung auf das Ligaspiel in Everton ist für Conte kein Thema mehr - denn der Klub hat ihn am späten Sonntagabend aus seinem noch bis Saisonende laufenden Vertrag freigestellt.

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In einem knappen Statement hieß es, Conte nehme nach 17 Monaten "im gegenseitigen Einvernehmen" Abschied von den Spurs. Normalerweise geht eine solche Trennung selten in Übereinkunft vonstatten, in diesem Fall aber ist davon auszugehen, dass Conte seine Entlassung quasi provoziert hatte, indem er nach dem jüngsten Ligaspiel, einem peinlichen 3:3 beim Tabellenletzten Southampton (nach 3:1-Führung), in einer spektakulären Schimpftirade mit Spielern ("egoistisch") und Klub ("nie etwas gewonnen") abgerechnet hatte.

Zuvor hatte er erläutert, Tottenham wäre "perfekt" für ihn, wenn er noch "keinen Titel" in seiner Laufbahn gewonnen hätte. Nur habe er halt eine ganz "andere" Vergangenheit als die Spurs. Während Conte mit Juventus, Chelsea und Inter Mailand bereits fünf Meisterschaften gewann, holten die Londoner in 22 Jahren, in denen Joe Lewis und Daniel Levy die Klubanteile über ihre Investmentfirma Enic halten, einen einzigen Pokal, den League Cup 2008. Aktuell droht Tottenham nach dem Aus in sämtlichen Pokalwettbewerben auch die erneute Qualifikation für die Champions League zu verspielen.

Pikant: Interimscoach bis Saisonende wird Contes bisheriger Assistent Cristian Stellini

Auf ähnlich unbarmherzige Art wie Conte schoss nun erwartungsgemäß Klubboss Levy, 61, zurück. Er erwähnte den Ex-Trainer zum Abschied mit keinem Wort und machte für die letzten zehn Saisonspiele pikanterweise Cristian Stellini zum Interimscoach, Contes langjährigen Assistenten. Stellini vertrat seinen Chef in dieser Saison schon mehrmals, häufig erfolgreich. Als Conte wegen einer Gallenblasen-Operation kürzlich wochenlang ausfiel, gelangen dem Team die besten Saisonleistungen - Siege gegen Manchester City, Chelsea und West Ham. Dabei sollte eigentlich Conte mit seiner selbstbewusst kommunizierten Erfolgsvita die Siegermentalität in den Verein bringen. Doch statt Trophäen habe es nur "sehr viel Ärger" gegeben, bilanzierte die Zeitung Guardian.

Contes kaum anderthalbjährige Amtszeit erinnerte an seinen ebenso streitbaren und kurzfristig denkenden Vorvorgänger José Mourinho. Auch der Portugiese erwischte einst einen respektablen Start, bis die Entwicklung plötzlich stagnierte und die Titelerwartungen sich nicht erfüllten. Beide, Conte und Mourinho, machten dafür das Klubmanagement verantwortlich, das aus ihrer Sicht auf dem Transfermarkt zu behäbig agiere. De facto jedoch haben die Spurs seit 2019 mehr als eine halbe Milliarde Euro in Ablösesummen für Zugänge gesteckt, mehr als 200 Millionen allein unter Conte, zum Beispiel für den Stürmer Richarlison, der noch kein Liga-Tor erzielt hat. Das Problem war also weniger fehlendes Investment als die Qualität der Transfers. Tottenham scheint immerzu kurzfristigen Erfolg kaufen zu wollen, mit wenig Bedacht werden überteuerte Spieler akquiriert, die selten Spitzenniveau verkörpern.

Im Kern besteht der Kader weiterhin aus Spielern, mit denen der Trainer Mauricio Pochettino vor Jahren fast Meisterschaft und Champions League gewonnen hätte. Ohne die regelmäßigen Tore des Weltklasse-Neuners Harry Kane wäre der Klub wohl schon ins Tabellenmittelmaß abgestürzt. Kane, 29, ist der Rekordtorschütze des Klubs - und seit dieser Woche auch jener Englands, weil er mit seinen Länderspieltoren 54 und 55 maßgeblich zu den EM-Qualifikationssiegen gegen Italien und die Ukraine beitrug. Kanes Vertrag bei Tottenham endet im Sommer 2024. Von seinen Planungen hängt die nahe Zukunft des Vereins ebenso entscheidend ab wie von der nächsten Trainerverpflichtung.

Als Kandidat für die Conte-Nachfolge gilt Ex-Coach Pochettino, dem bei seiner Entlassung Ende 2019 der Frust anzumerken war, dass die Ambitionen der Spurs nicht mehr seinen persönlichen Vorstellungen genügten. Pochettino wäre aber eher eine verzweifelt wirkende Rückholaktion. Besser nach Tottenham passen könnte da der soeben vom FC Bayern entlassene Julian Nagelsmann, wenn auch nicht sofort. Nach einer von ihm erwogenen Erholungsphase könnten die Londoner für den 35-Jährigen ein lohnender Zwischenschritt sein, um sich nach sieben Jahren Bundesliga erstmals im Ausland zu beweisen und sich damit aufs Neue für einen Weltverein zu empfehlen. Anders als bei den Seriensiegern aus München würde Nagelsmann in Tottenham ab kommendem Sommer weniger unmittelbar unter Druck stehen, es ginge wie bei seinen früheren Stationen Hoffenheim und Leipzig vorrangig darum, eine Mannschaft zu einem Titelkandidaten zu entwickeln.

Für eine solche Aufbauarbeit konnte sich Antonio Conte weder begeistern, noch wollte er sich dafür die erforderliche Zeit nehmen.

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