Angelique Kerber bei den French Open:An der Spitze des Sports

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Angelique Kerber hat weder das Tempo einer Maria Scharapowa noch die Wucht einer Serena Williams. Dafür hat sie gelernt, auch an schlechten Tagen und unter schwierigen Bedingungen ihre Qualitäten einzusetzen. So hat sie es in die Top Ten des Frauentennis geschafft - und könnte es nun auch in Paris weit bringen.

Milan Pavlovic, Paris

Es gibt Kriterien, die beziffern, ob jemand zur Spitze seines Sports gehört. Angelique Kerber erfüllt einige von ihnen. Sie ist soeben erstmals in die Top 10 der Welt vorgerückt, war im Frühjahr bei zwei Turnieren erfolgreich (in der Halle in Paris und Kopenhagen) und hat 2012 bereits 34 Spiele gewonnen - nur zwei Kontrahentinnen (Viktoria Asarenka und Agnieszka Radwanska) sammelten mehr Siege. Es gibt aber auch Faktoren, die verraten, ob jemand in seinem Metier als Spitzenkraft wahrgenommen wird.

Gereift und angekommen in der Weltspitze: Angelique Kerber bei den French Open in Paris. (Foto: AP)

Und obwohl sie nichts dafür kann, spricht noch manches gegen die Kielerin. Während ihrer Erstrundenpartie nannte sie der Schiedsrichter Nicholas Stellabotte hartnäckig Angelika. "Bei der Platzwahl" machte die 24-Jährige den Italiener auf seinen Fehler aufmerksam, einmal hielt sie vor einem Aufschlag kurz inne und überlegte, ob sie noch einmal etwas sagen sollte, "aber dann habe ich mich lieber aufs Spiel konzentriert".

Als am Mittwoch Kerbers zweite Runde gegen Olga Goworzowa anstand, ließen die Veranstalter sie lange warten, obwohl erstens bald klar war, dass der ihr zugeteilte Court noch länger besetzt sein würde, und zweitens, dass eine Regenfront immer näher rückte. Als die beiden Frauen dann schließlich auf einen anderen Platz geschickt wurden, hatte es längst angefangen zu tröpfeln.

Die Bedingungen waren schon grenzwertig, doch es mussten im immer stärker werdenden Sprühregen erst einmal drei Spiele bestritten werden, bis auch die Franzosen einsahen, dass das mit Sport nicht mehr viel zu tun hatte. Maria Scharapowa wäre unter solchen Bedingungen wohl nicht mehr auf den Platz gegangen. Oder man hätte sie gar nicht mehr geschickt.

Kerber konnte sich nicht weigern, "es war eine ganz neue Situation für mich", sagte sie nach der Fortsetzung und dem 6:3, 6:2-Sieg. "Den ganzen Tag zu warten, nicht zu wissen, wann und wo und ob ich spielen müsste, das hat schon eine Menge Energie gekostet." Kurioserweise war sie Opfer ihrer eigenen Ergebnisse geworden und musste unbedingt auf einem der "Fernseh-Plätze" spielen. Am Ende war sie dann "froh, dass der Regen kam, denn ich fühlte mich gestern nicht optimal. Heute auch nicht, aber man muss auch an schlechten Tagen gewinnen."

Dass sie das inzwischen kann, spricht für Kerbers rapiden Reifeprozess. Vor einem Jahr, nach ihrer frustrierenden Erstrundenniederlage an gleicher Stelle gegen die harmlose Rumänin Edina Gallovits-Hall, zeigte Kerbers Formkurve noch rapide nach unten, und obwohl sie die Talsohle noch gar nicht erreicht hatte, wirkte sie ratlos. Nun ist ein Ende des Aufstiegs nicht in Sicht. Wie das zu erklären ist?

Unter anderem damit, dass Physis und Psyche endlich in Einklang kamen, so kann sie Defizite kompensieren. Denn Kerber hat im Grunde nicht die mächtigsten Waffen: Sie hat weder das Tempo einer Scharapowa noch die Wucht einer Williams. Dafür nutzt sie die Vorteile des Spiels einer Linkshänderin aus und zeigt, was mindestens so wichtig ist, unbändigen Kampfgeist.

Dieser ermöglicht es ihr im kleinen, verloren geglaubte Ballwechsel für sich zu entscheiden. Und im großen, Rückstände jeder Art - inklusive Matchbällen - aufzuholen. "Mittlerweile ist das schon ein kleines psychologisches Plus für mich", sagt Kerber schamlos untertreibend. "Ich gehe jetzt eigentlich bei jedem Match raus und weiß, dass ich es gewinnen kann - egal gegen wen."

Sie überrollt die Konkurrenz nicht, sondern kämpft sie nieder. In ihren ersten Partien am Bois de Boulogne waren ihre Gegnerinnen spielerisch nicht schlechter. Sicher, der zweite Aufschlag von Olga Goworzowa hatte schon etwas von einer Einladung an ihre Kontrahentin. Aber noch eindrucksvoller als Kerbers Fähigkeit, das Spiel aufzuziehen, ist ihr Vermögen, aus der Abwehrposition offensiv zu werden.

Am Donnerstag war das besonders gut zu beobachten, als die entscheidenden Punkte anstanden. Bei 3:3 erreichte Kerber einen Treibschlag der Weißrussin soeben noch; dem Notlob setzte Goworzowa einen Schmetterball in die Ecke entgegen, doch auch da war die Deutsche zur Stelle. Ihr Passierball tropfte von der Netzkante ins Feld, was einerseits Glück war, andererseits ein Ausdruck von Können. Bei 5:3 und 30:30 senkte sich ein Notschlag Goworzowas auf die Grundlinie, den Kerber soeben von der Bande des Platzes zurücklöffeln konnte - doch für den folgenden Passierball eine Sekunde später war sie sofort wieder zur Stelle.

Reicht solches Tennis für internationales Interesse? Nach dem Erstrundensieg wurden Kerber immerhin drei Fragen auf Englisch gestellt. Am Donnerstag keine. Nach dem frühen Aus der Französin Marion Bartoli ("Das habe ich registriert, versuche es aber auszublenden") kann Kerber nun frühestens im Viertelfinale auf eine namhafte Gegnerin (Radwanska) treffen.

Aber ihr Tennis muss schon vorher internationale Klasse haben. Bereits am heutigen Freitag steht die Partie gegen die unbequeme Flavia Pennetta an, "gegen sie habe ich in diesem Jahr schon verloren", im Januar auf einem Hartplatz in Neuseeland . Die Spezialität der Italienerin: Sie überrollt die Konkurrenz nicht, sondern kämpft sie nieder. Kommt einem bekannt vor. In der dritten Runde trifft die Kielerin auf die unbequeme Kämpferin Flavia Pennetta.

© SZ vom 01.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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