Fußball:8820 Minuten am Stück

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Immer im großen Max-Morlock-Stadion: Jessica May, hier beim Remis gegen den FC Bayern. (Foto: Sven Beyrich/Sports Press Photo/Imago)

Wenn der Aufsteiger 1. FC Nürnberg in der Frauen-Bundesliga gegen Wolfsburg antritt, wird Jessica May für den Club ihr 99. Spiel in Serie bestreiten. Seit mehr als fünf Jahren hat sie keine Minute in einem Ligaspiel verpasst.

Von Helene Altgelt

Der 1. FC Nürnberg hält in der Frauen-Bundesliga gut mit. Jessica May spielt immer. Mit einem dieser Sätze hätte man vor der Saison vielleicht nicht gerechnet, mit dem anderen schon. Vor dem Spiel gegen den Meisterschaftszweiten VfL Wolfsburg rangiert der Club mit acht Punkten auf dem elften Platz, nur zwei Zähler fehlen zum rettenden Ufer. Der Klassenverbleib ist nicht unrealistisch, und das ist durchaus überraschend: Nürnberg hatte nur knapp den Aufstieg geschafft, nach acht Niederlagen in der zweiten Liga war es kein souveräner Durchmarsch. "Niemand hat damit gerechnet, dass es so schnell geht", sagt May.

Weniger überraschend: Jessica May ist Dauerbrennerin, Kapitänin, Identifikationsfigur beim Club. Seit mehr als fünf Jahren hat sie kein Ligaspiel verpasst, keine Halbzeit und auch keine Minute. Sie spielte in der Regionalliga gegen den Hegauer FV, wo ihre Serie damals begann, in der zweiten Liga gegen Andernach und Gütersloh und nun in der Beletage gegen Bayern und Wolfsburg. 98 Spiele ist die Serie schon lang, 8820 Minuten. Gegen Hoffenheim wird wohl die 100 fallen.

Die 24-Jährige verkörpert Verlässlichkeit, sie organisiert ihre Defensive von hinten als ruhige Anführerin, geerdet und auf eine stille Art selbstbewusst, sie ist auf dem Platz und in der Kabine wichtig. Als "etwas wie die Mama in der Mannschaft, der Kleber, der alles zusammenhält", beschreibt sie Nürnbergs Trainer Thomas Oostendorp. Jessica May räumt als Innenverteidigerin mehr auf, als dass sie abräumt: "Ich bin nicht die Zweikampfstärkste, aber ich versuche, das Spiel zu lenken", sagt sie über ihren Spielstil.

Mays Fünfjahresserie steht symbolisch für den Ansatz des 1. FC Nürnberg im Frauenfußball. Konstant, Schritt für Schritt, Minute für Minute soll es nach vorn gehen. Für den ganzen Verein wie auch für die Kapitänin war der Aufstieg eine "Riesensache". May war früher Einlaufkind im Max-Morlock-Stadion, jetzt läuft sie nicht mehr bloß ein, sondern bleibt auf dem Rasen. Für 90 Minuten. Ihre einzigartige Serie sieht sie als Leistung, aber vor allem als Privileg - das Privileg, mehr als fünf Jahre lang von Verletzungen verschont geblieben zu sein, von kleinen Schmerzen wie von Blessuren mit neunmonatiger Rehazeit. Mit denen kennt sich auch der Club aus, drei wichtige Spielerinnen fielen vor Beginn der Saison mit einem Kreuzbandriss aus.

Das Sprinten gehört nicht zu ihren großen Stärken, aber das kann May mit Humor nehmen

Jetzt kommt das Spiel gegen den VfL Wolfsburg, die Dominatorinnen der vergangenen Dekade mit den schnellsten Stürmerinnen der Bundesliga. Für May ist das eine Herausforderung, denn die Schnelligkeit war eine jener Eigenschaften, an die sie sich in der Bundesliga erst einmal gewöhnen musste. Das Sprinten gehört nicht zu ihren großen Stärken, aber das kann May mit Humor nehmen: "Ich würde gerne mal erleben, wie es ist, sehr schnell zu sein."

Im Hinspiel hielt Nürnberg gegen den VfL Wolfsburg gut mit, es war ein erster Wendepunkt der Saison. In den ersten beiden Partien hatte der Club Lehrgeld gezahlt und hoch gegen Bremen und Leverkusen verloren. Ein Debakel drohte - doch die Nürnbergerinnen steigerten sich, unterlagen dem VfL nur knapp mit 0:1 und fuhren zwei Wochen später den ersten Sieg ein. Im Dezember gelang ihnen die bisher größte Sensation der Saison, sie verteidigten gegen Bayern zu Hause mit Frau und Maus und sicherten sich einen Punkt.

Der 1. FC Nürnberg hat sich erstaunlich schnell in der Bundesliga zurechtgefunden, nachdem im Sommer ein neuer Trainer gekommen war: Thomas Oostendorp, ein junger Niederländer ohne vorherige Vereinserfahrung in höheren Ligen - ein weiteres Wagnis. Es hat sich ausgezahlt. "Er ist sehr fordernd auf dem Platz, was auch gut ist, weil sich alle weiterentwickeln mussten", sagt May. Oostendorp lässt einen Fußball spielen, der zum Club-Motto passt, wie May erklärt: mutig bis zum Schluss. Nürnberg zieht ein hohes Pressing auf, will jeden Gegner früh unter Druck setzen und von dem eigenen Tor weghalten. Damit lief der Club zu Beginn oft ins offene Messer, aber Oostendorp blieb bei seiner Idee, die inzwischen Früchte trägt.

In der Abstiegszone stecken die Nürnbergerinnen immer noch, aber sie werden von Spiel zu Spiel überzeugter, dass sie dort nicht hingehören. Obwohl das durchaus zu erwarten war. Der Aufstieg, der Trainerwechsel, die Verletzungen: Niemand hätte einen Pfifferling auf sie gewettet, vielleicht selbst im Club nicht. Aber ihre Lernkurve ist steil. "Mit der Leistungssteigerung, die wir in dem halben Jahr genommen haben, können wir gegen jeden Gegner Punkte holen", sagt May: "Wenn man so weiterarbeitet wie in den letzten Jahren, wird Nürnberg zwangsläufig im Mittelfeld der ersten Bundesliga landen und sich da auch etablieren."

Die vorherige Anlage war nicht bundesligatauglich, das Max-Morlock-Stadion ist überdurchschnittlich

Die nötigen Strukturen sind jedenfalls vorhanden, um über die Saison hinaus mitzuhalten. Neben Duisburg ist Nürnberg der einzige Verein, der Heimspiel für Heimspiel im großen Stadion spielt. Die vorherige Anlage war nicht bundesligatauglich, das Max-Morlock-Stadion ist dagegen überdurchschnittlich. May sagt, es freue sie jedes Mal, zu sehen, dass die Gegnerinnen Fotos und Videos bei ihnen machen, "weil das kein Alltag in dieser Liga ist, und für sie auch etwas Besonderes".

May sagt das oft. Etwas Besonderes sei dieses kleine Fußballmärchen in Nürnberg, nicht normal, nicht wie bei den anderen Vereinen. Für sie hat sich mit der jetzigen Saison ein Traum erfüllt, der immer noch etwas unreal scheint. Nürnberg und May kämpfen um die Verlängerung dieses Traums, Spiel für Spiel, Halbzeit für Halbzeit, Minute für Minute.

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