1. FC Magdeburg:Der Experte für Pokalsensationen

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Ein Experte für Pokalsensationen: Trainer Jens Härtel (Mitte) hofft mit dem Drittligisten Magdeburg auf eine Überraschung gegen den BVB. (Foto: Christian Schroedter/imago)
  • Jens Härtel, Trainer des Drittligisten 1. FC Magdeburg, wurde im DFB-Pokal in fünf Begegnungen gegen Bundesligisten erst zwei Mal besiegt - und das erst im Elfmeterschießen.
  • Am Dienstagabend fordert Magdeburg Borussia Dortmund heraus.

Von Javier Cáceres, Magdeburg

Wenn man Jens Härtel mit einer Statistik konfrontiert, die einzigartig ist, die ihn selbst betrifft und überdies für den Dienstagabend nicht das schlechteste Omen darstellt, reagiert er erst einmal: perplex. Härtel, 48, sitzt im Trainingsanzug an einem Tisch im VIP-Raum der Arena des 1. FC Magdeburg, lehnt sich zurück und rechnet, die Hände vor der Brust verschränkt, kurz nach, ehe er sagt: "Das ist mir gar nicht so bewusst."

Die Statistik besagt, dass er fünf Mal mit unterklassigen Teams gegen Fußball-Bundesligisten im Pokal angetreten ist. Und nicht ein einziges Mal besiegt wurde. Jedenfalls nicht nach 90 oder 120 Minuten, sondern frühestens im Elfmeterschießen.

Goliath ohne Aubameyang

Bayer Leverkusen (2014) und Eintracht Frankfurt (2016) kamen gegen die von Härtel trainierten Magdeburger nur in dieser Variante des Glücksspiels weiter. 2012 schlug Härtel, damals noch Trainer des Regionalligisten Berliner AK, die TSG 1899 Hoffenheim von Markus Babbel mit 4:0. Und den FC Augsburg schaltete Härtel mit Magdeburg gleich zwei Mal aus: einmal 2014, einmal vor wenigen Wochen in der ersten Runde des laufenden Wettbewerbs.

Diesen Dienstag versucht es der FCM erneut, Gegner im Achtelfinale ist kein Geringerer als Borussia Dortmund. Härtel gibt sich skeptisch: "Man muss klar sagen: Bayern und Dortmund haben in den letzten Jahren gegen unterklassige Mannschaften nichts anbrennen lassen. Das haben die sehr seriös abgearbeitet." Und trotzdem bleibt immer diese David-gegen-Goliath-Chance, die nur der Pokal anbietet, zudem tritt Goliath ohne Torjäger Aubameyang (muskuläre Probleme) an.

Der einzige DDR-Klub mit einem europäischen Titel

Die Generalprobe aber ist misslungen. Am Samstag verlor Magdeburg in der dritten Liga gegen Unterhaching 0:3, die erste Heimniederlage der Saison. Andererseits ist Magdeburg immer noch ein besonderes Pflaster, ein Ort, der Fußball atmet. An dem nichts vergessen wird. 1974 wurde der FCM der erste und einzige Klub der DDR-Historie, der einen europäischen Titel gewinnen konnte. Damals wurde im Pokalsieger-Finale in Rotterdam der AC Mailand von Giovanni Trapattoni mit 2:0 besiegt. Und: Der FCM ist von jeher eine Pokalmannschaft. Sieben Mal landete der FDGB-Pokal der DDR an der Elbe, und auch später gab es dort Siege gegen den FC Bayern, Borussia Dortmund, Ereignisse eben, die unter den Fans das Gefühl erneuerten, den Besten der Branche ebenbürtig zu sein. Zumindest an diesen gewissen Tagen.

"Wir sind die Größten der Welt", lautet immer noch das Fan-Motto in Magdeburg, und je länger man mit Härtel zusammensitzt, desto klarer wird, wieso er hier seit seinem Amtsantritt 2014 so gut funktioniert. Weil er das genaue Gegenteil eines Größenwahns personifiziert, der längst Teil einer gut begründeten Folklore ist. Härtel sorgt dabei für die nüchterne wie seriöse Erdung des Gebildes.

Er wurde 1969 geboren, in einer in vielerlei Hinsicht anderen Zeit, vor allem dort, wo er zur Welt kam, in Sachsen. Die Eltern - der Vater Schlosser, die Mutter Bäckerin, "Arbeiterklasse", wie er sagt - bauten ein Eigenheim. Was kaum weiter der Erwähnung wert wäre, wenn Jens Härtel nicht davon erzählen könnte, dass es damals in der DDR keine Baumärkte gab, in denen die Regale überquollen, sondern nur nach Versorgungslage und unter erheblichen Mühen und mit quälenden Unterbrechungen weitergewerkelt werden konnte. Da war ein Richtfest ein erhebender Moment.

Zwei Jahrzehnte später: der Mauerfall, die Wende. Der Bruder ging nach Bayern und lebt noch immer dort, ihn selbst hielt der Profifußball zurück und über Wasser. Begonnen hatte Härtel bei Motor Grimma, er wechselte zu Lok und Sachsen Leipzig, zu Union Berlin und nach Zwickau, nährte sich immerhin in der zweiten Liga, während Freunde und Verwandte arbeitslos wurden. Auch er lernte, auf anderer Ebene, was Insolvenzen, was Abstiege sind. Stress war es allemal. Blickt er zurück, denkt er vor allem an jene Tage, in denen ihm der Fußball als Basiskultur wieder begegnete: In Schöneiche bei Berlin, wo er in der Regionalliga als Spielertrainer eines Amateurteams namens Germania arbeitete. Das Geld? Verdiente er im Autohaus. Die Kinder? "Sah ich nur wenig in jener Zeit."

Irgendwann stand er dann doch vor der Entscheidung: Bürgerliches Leben in aller Konsequenz? Oder doch dem Ruf von Dietmar Demuth folgen, einem früheren Profi (St. Pauli, Leverkusen), um beim SV Babelsberg 03 als Assistenztrainer anzufangen. Als Fußballlehrer mit aller Konsequenz. "Und da war klar: Einen Weg zurück ins Autohaus gibt es nicht."

Der Pokal "hat mein Leben verändert"

Schon als Spieler hatte sich Härtel nach Trainingseinheiten Notizen gemacht. Sich mit der Frage beschäftigt, welche Übungsformen mit Blick auf welche Spiele wichtig sind. Die Notizen liegen heute verstaubt bei den Akten: "Da schaue ich nicht mehr rein, der Fußball hat sich nicht nur taktisch enorm verändert." Wie sehr, das belegen all die Namen aus Ost und West, die seine Ausführungen begleiten. Zeugen einer anderen Zeit, eines anderen Spiels: Eduard Geyer und Jimmy Hartwig, Hans Meyer, Charly Körbel, Frank Pagelsdorf, Gerd Schädlich und Joachim Streich, die Legende aus Magdeburg.

Namen besonders wie Geyer und Meyer, die schon im Fußball-Osten ihren eigenen Klang hatten, die aber dann, wie Härtel es nennt, "die Tippel-Tappel-Tour von unten" gingen. Die "sich ihren Weg in die Bundesliga auf sehr eigenen Wegen bahnen mussten" - Geyer, 73, landete mit Energie Cottbus dort, Meyer, 74, als Trainer mit Borussia Mönchengladbach und Hertha BSC.

Wenn man so will, ist auch Härtel unterwegs auf einer solchen Tippel-Tappel-Tour. Ein wenig verwunderlich ist es doch, dass er nur selten im Gespräch ist, wenn sich Klubs in Krisenlage nach einem Trainer umsehen. Als sei seine Geschichte eine, die nur in Geheimzirkeln erzählt wird. Obwohl es eine Erfolgsgeschichte ist.

Als er den Entschluss traf, Trainer zu werden, sei für ihn klar gewesen, dass er "die höchstmögliche Qualifikation" anstreben wolle. Er erwarb die Trainerlizenz mit der Note 1,7, einige seiner damaligen Mitschüler sind heute durchaus bekannt im Gewerbe: Markus Gisdol (Hamburger SV), Roger Schmidt (ehemals Leverkusen, heute in China), Tayfun Korkut (ehemals Hannover, Kaiserslautern), Markus Weinzierl (ehemals Augsburg, Schalke) oder Thomas Schneider, der Assistent von Bundestrainer Joachim Löw. Härtel trat seine erste bezahlte Cheftrainerstelle in der Regionalliga an. Im Wedding, beim Berliner AK. Kein Ort, an dem man den Fokus auf sich zieht. Es sei denn im DFB-Pokal. "Der hat mein Leben verändert", sagt Härtel.

Zu solchen Spielen kommen die Scouts in die Niederungen, das 4:0 gegen Hoffenheim hatte Helmut Groß live verfolgt, der Mentor von Ralf Rangnick und Gestalter vieler Strukturen, die inzwischen RB Leipzig zu einem Spitzenklub formten. Groß sah, wie Härtel den Hoffenheimern und Trainer Babbel die richtigen Fallen stellte. Groß sah, dass da ein Trainer am Werk war, der zu jenem Stil passte, der für RB Leipzig am Reißbrett entwickelt wurde. Auch RB-Chef Rangnick kam zu den Spielen - "wir spielten mit dem Berliner AK ja damals noch in der selben Liga wie RB" - er bot Härtel an, die U19 in der Leipziger Talentschmiede zu übernehmen. Härtel ging zurück zum Nachwuchs und führte RB ohne Niederlage in die U19-Bundesliga.

Und verließ den Verein dann doch. Weil ihm nicht alles gefiel, was er sah. "Ich habe da auf Geld verzichtet", sagt er. Zudem glaubte er, sich in einem Klub, in dem es "bodenständige Arbeitertypen gibt und wenig Schickeria", wohler zu fühlen. Bei einer Mannschaft, "die kämpft, mutig ist, nicht abwartend spielt, Herzblut entwickelt".

Maximum: Zweite Bundesliga

Härtel führte Magdeburg auf Anhieb in die dritte Liga. Finanziell hat sich der Verein stabilisiert, es sind viele Fortschritte zu erkennen: "Wir haben jetzt einen hauptamtlichen Torwarttrainer, einen Athletik-Trainer, einen Reha-Trainer, einen zweiten Co-Trainer, auf der Geschäftsstelle sind viel mehr Mitarbeiter. Alles ist professioneller." Aber die Yoga-Matten, auf denen sich die Spieler drehen und strecken, liegen nicht in einer schönen Turnhalle, sondern im Flur zwischen den Kabinen.

"Das Maximum wäre für uns ein Schritt höher, die zweite Liga", glaubt Härtel. Aber er weiß, dass viele Magdeburger sich nach Größerem sehnen, nicht nur nach einem Besuch von Borussia Dortmund. Sie müssen sich ja auch nur umschauen in ihrem Stadion. An der Wand von Block U prangen dort all die Namen von einst, aus DDR-Zeiten, die die Europapokal-Nächte prägten.

"Eine Zeitlang hat der Blick zurück auch gelähmt, weil er den Blick nach vorn verstellte", sagt Härtel. Und er fügt an, dass es "nicht realistisch ist", zu glauben, "dass man da je wieder hinkommt." Aber klar: "Man will immer mal sehen, ob man in höheren Ligen auch schwimmen kann."

Im Frühjahr hat er seinen Vertrag verlängert, bis 2018, seit Neuestem lässt er sich von einer Beratungsagentur vertreten. "Aber ich bin keiner, der sagt, ich mache das entweder in der ersten oder zweiten Liga, oder gar nicht. Das ist nicht entscheidend für mein Lebensglück."

Entscheidend ist aktuell, dass er nicht genug Zeit hatte, um seine Elf auf das Duell mit Dortmund vorzubereiten. Regeneration, ein paar Videos. Das wird es gewesen sein, wenn angepfiffen wird und sie in der ausverkauften Magdeburger Arena hoffen, dass es bleibt, wie es war. Dass dem Trainer Härtel etwas einfällt, was die Magdeburger in der Gegenwart begeistert aber auch die Glorie vergangener Tage wieder aufleben lässt.

© SZ vom 24.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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