Sprachlabor (31):Genitiv des kleinen Mannes

Lesezeit: 1 min

SZ-Redakteur Hermann Unterstöger über die Erosion des Kasussystems und darüber, ob wir englische Verhältnisse befürchten müssen.

Hermann Unterstöger

Das appositive Syntagma hat an Festigkeit gewaltig verloren, es kriegt, um es mal so zu sagen, Wind von vorne, und der Ort, von wannen dieser bläst, trägt den Namen Unsicherheit im Kasusgebrauch. Die Leser machen uns immer wieder auf diese Unsicherheit aufmerksam, und wenn sie dabei in aller Regel auch den Begriff Appositives Syntagma vermeiden, so wissen sie doch sehr gut, wovon sie reden: von der Unsitte, einer Apposition nicht den Kasus zu gönnen, den deren Beziehungswort, der Antezedens, hat und nach allgemeinem Dafürhalten verpflichtend vorgibt.

Die undatierte Aufnahme zeigt den Fremdsprachenunterricht im Sprachlabor einer Schule in Frankfurt am Main. (Foto: Foto: dpa)

Sprachgewohnheiten ändern sich Ein Beispiel für viele: "Heimatstadt des Palio di Siena, einem Pferderennen." Dazu Leser M. so deutlich wie höflich: "Eines Pferderennens, bitte." Wenn wir im Folgenden, gestützt auf Heinz Vaters Studie "Kasus in Appositionen", diese Unsicherheit im Kasusgebrauch genauer ansehen, dann nicht um von der eigenen Fehlbarkeit abzulenken, sondern um zu zeigen, wie sich die Sprachgewohnheiten ändern - und wir uns in ihnen.

Vater zufolge gilt die Kongruenzregel zwar noch, doch drängt sich vielfach der Nominativ als Ersatzkasus vor, ein Einspringertum, das ihm durch seine "Neutralität" als Nennform erleichtert wird. So hätte es, um bei unserem Beispiel zu bleiben, auch heißen können, Siena sei die "Heimatstadt des Palio di Siena, ein Pferderennen".

Das wäre leichter hingenommen worden als der Dativ, weil man es insgeheim zu einer vom Kasus her korrekten Parenthese hätte ausbauen können: "Heimat des Palio - das ist ein Pferderennen von ganz eigener Art - und der heiligen Katharina etcetera." Wie es aussieht, ist aber der Dativ der Appositionskasus schlechthin.

Entwicklung mit unklarem Ausgang Fälle wie "am Ufer des Jangtse, Chinas längstem Fluss" sind Legion, und wenn Heinz Vater mit seiner Analyse recht hat, kommt das daher, "dass im heutigen Deutsch der Genitiv sehr oft durch von + Dativ ersetzt wird", was den Dativ peu à peu zum "Genitiv des kleinen Mannes" werden ließe. Dazu passt, dass auch der entgegengesetzte Missgriff häufig passiert: "Die letzte Oper von W. A. Mozart, des göttlichen Meisters usw."

Wo diese auch beim Gebrauch der Präpositionen bemerkbare Erosion des Kasussystems hinführt? Genaues weiß man nicht, aber am Ende der Entwicklung könnten "englische Verhältnisse" stehen, eine Wandlung des Deutschen vom synthetischen zum analytischen Sprachtyp. Bis dahin sollten wir die Fahne der Apposition, unserem heutigen Sorgenkind, wenigstens kasusmäßig hochhalten.

© SZ vom 12.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: