Sprachlabor (293):Brotvermehrung

Lesezeit: 1 min

Zum Twittern müssen Nutzer nicht unbedingt vor dem Computer sitzen, für Smartphones und Tablets gibt es längst passende Apps. (Foto: dpa-tmn)

Teilen ist nicht gleich teilen: Auf welch lustige Assoziationen Leser manchmal kommen, wenn sie SZ-Artikel lesen, berichtet Hermann Unterstöger.

Von Hermann Unterstöger

DIE WUNDERBARE Brotvermehrung ist unserem Leser S. von Kind auf vertraut. So kam sie ihm denn auch sofort in den Sinn, als er las, dass jemand auf Twitter ein Foto gepostet habe, ohne den Rechteinhaber zu fragen, ob er das Bild "teilen" dürfe, und dass ferner auch andere Leute dieses Bild geteilt hätten. Ähnliche Assoziationen mögen ältere Leser bei der Meldung heimgesucht haben, wonach die ehemalige Miss Türkei, Merve Büyüksaraç, Scherereien mit der Justiz hat, weil sie auf Instagram ein allzu freches Gedicht teilte. In keinem dieser Fälle wird etwas zerschnitten und schnipselweise verteilt. Wie die Namen der "Tatorte" zeigen, handelt es sich um eine in den sogenannten sozialen Netzwerken geübte Praxis. Laut Wikipedia bedeutet teilen (englisch sharing) dort das Weitergeben/Empfehlen eines anderen Beitrags an seine Freunde/Follower; auf Twitter werde das auch retweeten genannt. Bei der Brotvermehrung bleibt indessen alles beim Alten: Die Brote wurden geteilt, nicht retweetet.

(Foto: Luis Murschetz (Illustration))

IN EINER "RING"-REZENSION war die Rede von einem Sänger, "der sich stimmlich schon vier Abende vor der ,Götterdämmerung' quasi auf Französisch verabschiedete und damit das perfekte Gesangsensemble verhinderte . . ." Das Irritierende an dem Satz war weniger die Art der Verabschiedung als vielmehr der Umstand, dass er den Lesern in nachfolgender Form präsentiert wurde: ". . . der sich stimmlich schon vier Abende vor der ,Götterdämmerung' quasi auf Französisch verabschiedete. (Neuer Absatz) Und damit das perfekte Gesangsensemble verhinderte . . ." Es handelt sich um zwei gleichwertige Gliedsätze, die einen Satzteil gemeinsam haben, nämlich das Subjekt "der". Man kann und darf solche Satzreihen trennen, wenn es aus Gründen der Dramatik dafürsteht: "Lohengrin stieg in den Kahn. Und fuhr von dannen. Und ward nicht mehr gesehen." In unserem Fall liegen solche Gründe nicht vor. Was also? Glaubt man, dass die Leser an längeren Sätzen zerbrechen?

© SZ vom 14.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: