Seattle:In fremden Beeten

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In der alternativen Szene Seattles wurde der Trend des urbanen Gärtnerns geboren. Nun sieht man auch, wohin das führt - Trump hat hier jedenfalls keine Chance. Ein Besuch.

Von Christian Döbber

Donald Trump baumelt im Wind. In einem Vorgarten in Capitol Hill haben sie ihn einfach aufgehängt. Kopfüber, an einer alten Konifere. Seine Haartolle ist überwuchert von Moos, das blütenweise Bleaching-Lächeln verblasst. Darunter, im Beet, wachsen sattgrün Rettich und Pak Choi. Auf einer Holztafel, die gegen den Baumstamm lehnt, steht in kapitalen Lettern: "Let us grow together - Revolution now!"

Ja, die Sitten sind rau im Nordwesten der USA. Im Winter schüttet es in Seattle oft monatelang wie aus Kübeln. Über die regenbewaldeten Olympic Mountains im Westen bläst die steife Pazifikbrise. Und auf der anderen Seite, im Hochgebirge der Kaskadenkette, erinnert in Sichtweite der knapp 4400 Meter hohe und ganzjährig schneebedeckte Mount Rainier daran, wo man sich eigentlich niedergelassen hat: in einer Metropole, in der die Wildnis in Form von Wald, Wasser und Bären bis an die Stadtgrenze reicht.

Trotzdem: Gelyncht wird ein unliebsamer Präsidentschaftskandidat auch im US-Bundesstaat Washington nicht - Dauerregen hin oder her. Der Trump am Baum ist nur eine lebensgroße Puppe, ein böser Scherz, den sich der Besitzer des alten Klinkerbaus in Capitol Hill erlaubt hat.

Hier, wo Seattle lebt, feiert, am grünsten und wohlhabendsten ist, delektiert man sich an einer Form der urbanen Unangepasstheit, die typisch ist für den Nordwesten. Die Outfits sind schrill, die Zebrastreifen regenbogenfarben und die Fahrräder natürlich vintage. Politik? Ja, aber wenn, dann bitteschön hellgrün! So weit, so gut. All das kennt man aus New York, Boston oder San Francisco auch. Doch irgendwie will das Klischee des postmaterialistischen Großstädters mit Hornbrille in Seattle nicht so richtig greifen.

Bestes Beispiel ist Amy Pennington. Die zierliche Frau - löchrige Jeans, ausgelatschte Espadrilles - kämpft mit der hakeligen Gangschaltung ihres Jeeps. Der Auspuff röhrt, die Rettich-Pflanzen auf der Ladefläche wiegen im Fahrtwind, als sie das moosgrüne Ungetüm durch den Stadtverkehr manövriert. "Klar sind wir Ökos", sagt Amy und nippt am Einweckglas mit ihrem Kopfsalat-Smoothie. "Aber eben nicht aus Mode, sondern aus Überzeugung." Dass ihr Wagen 20 Liter Sprit säuft - geschenkt. "Ich bin immer noch Amerikanerin", sagt Amy stolz lächelnd und legt vor einem kleinen Reihenhaus mit Holzveranda eine Vollbremsung ein.

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(Foto: Della Chen Photography/www.dellachen.com)

Amy Pennington zeigt Burgern und Pommes, was eine Harke ist. Gemüse selbst anbauen liegt im Trend. Foto: www.dellachen.com

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Die professionelle Gärtnerin pflanzt allen Kunden Artischocken und Pak Choi ins Privatbeet, die wenig Zeit und dafür genug Geld haben. Foto: www.dellachen.com

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(Foto: Della Chen Photography/www.dellachen.com)

Aber auch in den Problemvierteln am Stadtrand Seattles gedeihen Kohlrabi und Kopfsalat für die gesündere Ernährung. Foto: www.dellachen.com

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(Foto: Della Chen Photography/www.dellachen.com)

Überall im Stadtgebiet wird in Hinterhöfen, auf Brachflächen und zwischen Wolkenkratzern gegärtnert. Foto: www.dellachen.com

Zwischen Gehsteig und Straße stehen zwei von Holzlatten eingefasste Beete. "Das ist Charlys Garten", sagt Amy. "Am liebsten mag er Zuckerschoten und Mangold." Charly, das ist ein junger IT-Ingenieur, Single, ohne grünen Daumen und "very busy", wie Amy sagt. Sie bepflanzt, pflegt und bewässert seinen kleinen Gemüsegarten, während er arbeitet.

Aus der Tatsache, dass viele Menschen in Seattle einen Garten, aber keine Zeit haben, ihn zu bewirtschaften, hat die gebürtige New Yorkerin ein Geschäftsmodell gemacht. "Go go green garden" heißt ihr Service. Für 200 bis 400 Dollar pro Monat liefert sie den ernährungsbewussten Großstädtern frisches Obst und Gemüse direkt vom privaten Beet in die Küche - alles frisch, alles aus ökologischem Anbau, versteht sich. Neun Gärten sind in diesem Jahr in Amys Obhut. Die Leute stehen Schlange, um einen Platz bei ihr zu bekommen.

Wer sich Amys Service nicht leisten kann oder will, weicht auf einen der vielen öffentlichen Gärten in Seattle aus. Überall im Stadtgebiet wird in Hinterhöfen, auf Brachflächen und zwischen Wolkenkratzern gegärtnert. In den Community Gardens trifft sich die Nachbarschaft und erntet gemeinsam Kohl. Wer keinen Kohl hat, fragt in der Nachbarparzelle. Und frische Schnittblumen gibt es im öffentlichen Beet für jedermann.

Dass Urban Gardening das Zusammenleben der Menschen in einer Stadt verändert, liegt auf der Hand. Es macht aus anonymen Städtern Nachbarn, Bekannte, Freunde. Soziologen führen die niedrige Kriminalitätsrate in Seattle unter anderem auf das gemeinsame Gärtnern zurück. Die Stadtregierung macht mit. Obwohl Seattle dank Amazon, Boeing und Microsoft boomt, lässt sie die Grünflächen weitgehend unberührt.

SZ-Karte (Foto: N/A)

Am Stadtrand von Seattle geht man noch einen Schritt weiter. Im Problemviertel Rainier Beach, wo die schnurgerade Einfallstraße kilometerlang an verwaisten Wohnhäusern, tristen Ladenzeilen und herumlungernden Gangmitgliedern vorbeiführt, gedeihen auf einem riesigen Areal Kartoffeln, Kohlrabi und Kopfsalat. Auf den Äckern und in den Gewächshäusern arbeiten Immigranten, Flüchtlinge und Jugendliche aus prekären Verhältnissen. Seit 35 Jahren setzt sich die Urban Farm Seattle Tilth dafür ein, dass sozial Schwache aus den Brennpunkten der Stadt Zugang zu gesunder Ernährung erhalten.

"Sehen Sie sich um", sagt Andrea Platt Dwyer. "Es gibt hier in Rainier Beach weit und breit keinen einzigen Obst- oder Gemüseladen." Die Leiterin von Seattle Tilth will ändern, was auch andernorts in den USA - und nicht nur dort - gang und gäbe ist: Das Budget der Menschen bestimmt, was auf den Tisch kommt. "Und leider sind das auch in Seattle meistens noch Burger und Pommes", sagt Platt Dwyer. Auf ihrer Farm bildet sie Menschen zu urbanen Landwirten aus, sie kocht, isst und spricht mit ihnen. Platt Dwyer ist überzeugt: "Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, verändert nicht nur das eigene Leben, sondern die ganze Gesellschaft."

Auf der anderen Seite der Stadt, oberhalb des Lake Washington, ist Amy vor einer Villa vorgefahren. Goldenes Tor, breite Einfahrt, akkurat geschnittene Buchsbaum-Kugeln vor der Mahagoni-Haustür. "Hier wohnen die Madisons", sagt Amy. "Sie mögen Artischocken und Blaubeeren." Ihre Mission auf dem Millionen-Dollar-Anwesen: den asiatischen Zitrusbaum auf dem Garagendach beschneiden und die Kiwis ernten. Dünger darf Amy in diesem Garten nicht verwenden. "Die Madisons wollen einen sauberen See zum Baden."

Gegärtnert wird in Seattle in allen sozialen Schichten - und das schon seit Jahrzehnten. Die Stadt gilt als Erfinderin des Urban Gardenings. In ihren Hinterhöfen beackerten die Menschen ihre Beete schon, als die Hochhausdächer in New York noch staubig und die Prenzlauer in Berlin DDR-Bürger waren. Zwar lassen sich inzwischen viele ihren Kohl im Privatbeet von professionellen Gärtnern wie Amy anpflanzen und pflegen, weil sie wegen ihres Fulltime-Jobs keine Zeit für derlei Müßiggang haben. Doch die Mehrheit, das kann Amy bestätigen, macht sich die Knie für den Kopfsalat aus Privatproduktion immer noch selbst schmutzig. "Hier im Nordwesten können wir mit McDonald's einfach nicht so viel anfangen."

Über jeden Verdacht der Spießbürgerlichkeit erhaben

Das kann man bei einem Spaziergang durch Seattle Downtown sehen - und riechen. Zwischen der zur Weltausstellung 1962 errichteten Space Needle, die aussieht wie eine Requisite aus Raumschiff Orion, und der Gum Wall, die von Touristen aus aller Welt mit Kaugummi beklebt wird, stört kaum eine Fastfood-Filiale die salzige Pazifikluft mit Fritteusen-Dampf. Stattdessen duftet es an den Piers nach frischem Fisch.

Die Quelle ist schnell ausgemacht. Grellrot leuchtend weist die überdimensionale Reklametafel den Weg zum Pike Place Market. Er ist der älteste, durchgehend bewirtschaftete Erzeugermarkt der USA. Seit 1907 lautet das Motto dort "Meet the producer". In den Hallen riecht es nach frischen Morcheln, Trüffeln und Knoblauch. An den Fischständen stapeln sie die Hummer und Muscheln in ihrem Eisbett, die Händler werfen sich tellergroße Königskrabben zu. Und die wie Meeresungeheuer dreinblickenden Seeteufel treiben Kindern die Furcht ins Gesicht.

Dass die Seele Seattles über jeden Verdacht der Spießbürgerlichkeit erhaben ist, spürt man auch im Stadtteil Georgetown. Dort baut Boeing seine Dreamliners und Jumbos - und Charles Smith macht Wein. Der gebürtige Kalifornier mit der Lockenmähne war Manager mehrerer Rockbands, ist jahrelang durch Europa getourt - bis er nach seiner Rückkehr den Wein für sich entdeckt und 2001 die ersten 330 Kisten Syrah auf den Markt gebracht hat. Heute ist Smith einer der größten Weinproduzenten in Washington und liefert in mehr als 20 Länder weltweit, darunter Deutschland.

Alle fünf Minuten donnert ein Jet über Smiths Kellerei hinweg. Früher wurden hier Getränkedosen abgefüllt. Heute vibrieren die Gläser in zwei Tasting Rooms, die im Stil alter Pan-Am-Lounges gehalten sind. Die Kundschaft hat durch große Glasfronten direkten Blick auf die Fässer und genießt zum Teil mit Bestwertung ausgezeichnete Chardonnays, Merlots und Syrahs. Die Trauben dazu gedeihen freilich nicht an der Startbahn, sondern jenseits der Kaskadenkette, zum Beispiel im staubtrockenen und wüstenheißen Walla Walla County. Aber die Gärung findet mitten in Seattle statt, wodurch "Jet City" inzwischen die größte Urban Winery an der amerikanischen Westküste ist.

Gerne werden Winzer wie Charles Smith belächelt. Kollegen aus Kalifornien und Oregon gilt Washington nicht als angestammtes Weinanbaugebiet. Die Tropfen sind jung, die Winzer dafür ambitioniert. Das Besondere an den Weinen? Es mag pathetisch klingen, aber Sommelier Jake Kosseff sagt: "Man schmeckt in ihnen keinen Zorn, nur Frieden und Liebe." Da verwundert es auch nicht mehr, dass Donald Trump bei seiner Wahlkampftour im Washington State Probleme hatte. Eine Kundgebung auf den Boeing Fields wurde ihm schlichtweg verweigert.

© SZ vom 06.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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