Ausstellung "nineties berlin":Das Geschäft mit dem Mythos Berlin

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"Love Parade": Die Musik der 90er treibt durch die Ausstellung "nineties berlin". (Foto: Marcus Wichert; nineties berlin 2018)

Eine Ausstellung feiert die wilden 90er Jahre in Berlin. Ihr legendärer Ruf machte die Stadt zum Ziel für Neubürger und Touristen - und unbezahlbar für jene, die den Ruf begründeten.

Von Hannah Beitzer

Die Bässe wummern in dem schmalen, dunklen Gang. Hinter ihm tut sich ein Raum auf, den ein 360-Grad-Bildschirm umspannt. Auf diesem Bildschirm rieseln Ostmark-Scheine vom Himmel, daneben tanzen Kreuzberger Battle-Rapper, Künstler schweißen irgendwas in irgendeiner Fabrikhalle zusammen, wieder daneben lodern Flammen um besetzte Häuser, Helmut Kohl taucht auf und wieder ab, Schriftzüge flimmern über das Durcheinander: "Ich bin ein Berliner", "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen" und da ist sie schon, die Mauer, mit deren Fall jene Epoche einsetzte, die diese Ausstellung zum Thema hat: die wilden 90er in Berlin.

Unter dem Titel "nineties berlin" können Besucher der "Alten Münze" in Berlin-Mitte Technosounds lauschen und sich von Zeitzeugen noch einmal erzählen lassen, wie wild und wie frei das Leben war, damals, als Berlin tatsächlich noch arm, aber sexy war. Das macht unheimlich viel Spaß, die Musik treibt im Takt durch die Ausstellung, durch ein verschlungenes Labyrinth der In-Locations und angesagten Partys jener Zeit - Tresor! Tacheles! Tekknozid! Und dazwischen können Besucher Mauersteine verzieren, direkt neben einem Raum voller Maschinenpistolen, die seltsam ernst inmitten der Aufbruchsstimmung an das Schicksal der Berliner Mauertoten erinnern, deren Namen sie an der Wand gegenüber ins Visier nehmen.

Das Berlin der 90er Jahre war unperfekt - die Ausstellung ist geschmeidig

Die Ausstellung feiert das Spontane, Imperfekte, Dreckige, Ziellose dieser Jahre, ist aber selbst über die Maßen geschmeidig komponiert, multimedial und effektvoll. Über eine App kann der Besucher zusätzliche Informationen zu den Ausstellungsstücken abrufen. Sound, Farben, alles stimmt. Die Perfektion der Ausstellung wirkt wie ein direkter Hinweis auf die Gegenwart, in der der Mythos des "alternativen Berlin" längst ein lukratives Geschäftsmodell ist. Er lockt Touristen und Investoren, Expats und Leute aus der deutschen Provinz in die Hauptstadt, in eine geglättete, konsumorientierte Version. Die Leute, die damals dabei waren, sind darüber heute nicht unbedingt glücklich.

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Deutlich wird das im dritten Raum, in dem unter dem Titel "Heads of Berlin" Politiker, Künstler, Clubbetreiber, Polizisten und Autonome sich an die 90er Jahre erinnern. Die Optik der kreisförmig platzierten Bildschirme mag konventioneller sein als die Inszenierung der übrigen Ausstellung. Wer vor einem der Bildschirme stehenbleibt und sich einen Kopfhörer aufsetzt, ist wie abgeschirmt vom Spektakel in den anderen Räumen. Er trifft auf Menschen mittleren bis fortgeschrittenen Alters, die in stiller Melancholie von damals erzählen - und das Heute im Blick haben.

Linken-Politiker Gregor Gysi etwa denkt zurück an die Wiedervereinigung und bilanziert: Wenn ein armer Neffe mit seiner reichen Tante zusammenziehe, dann gebe es zwei Möglichkeiten. Entweder, man suche sich gemeinsam eine Wohnung, in der der Neffe ebenso wie die Tante etwas zu bestimmen habe. Oder der Neffe ziehe bei der Tante ein. "Dann kriegst Du das eine freie Zimmer - und das war's." Er beschreibt damit das Gefühl einer ganzen Generation Ostdeutscher, denen in den 90er Jahren das gewohnte System wegbrach und deren Hoffnungen auf ein neues, gemeinsames Deutschland nicht erfüllt wurden. Der Eindruck, nur der arme, ungeliebte Neffen zu sein, blieb offenbar einigen.

Von dieser Generation erzählt auch Kai-Uwe Kohlschmidt, Sänger der Punkband Sandow. Die landete 1988 mit dem Lied "Born in the GDR" einen Hit, eine satirische Adaption von Bruce Springsteens "Born in the USA". Nach dem Fall der Mauer wurde "Born in den GDR" (German Democratic Republic, deutsch: Deutsche Demokratische Republik) zu einem DDR-Nostalgiehit. Die Band Sandow weigerte sich fortan, es zu spielen, hatte keine Lust auf Nostalgie. Sehr zum Unverständnis des ostdeutschen Publikums.

Und im Westen Berlins? Auf einem der Bildschirme sitzt in einem gepunkteten Kleid Danielle de Picciotto, Mitbegründerin der Loveparade. Die Technoparade fand 1989 das erste Mal in West-Berlin statt und wurde im Laufe der 90er Jahre zum Massenevent. Bei der vierten Loveparade sei sie ausgestiegen, erzählt de Picciotto, "Das wurde mir zu groß. Ich bin nicht so ein Massenmensch." Die Künstlerin berichtet, wie sie in den 90er Jahren unbeirrt weiter Kunst in der Nische machte, als andere den alternativen Ruf Berlins längst fürs Business nutzten. "Wir wollten nicht Mainstream sein", sagt sie.

Als sie und einige andere Künstler einmal eine Unterkunft suchten, möglichst umsonst, wendeten sie sich an die Berliner Verwaltung. Denn schließlich verdiente die Stadt längst an ihrem Ruf als alternative Hochburg. Die Künstler trafen auf eine Sachbearbeiterin, die zugab: Ja, die Künstler hätten schon eine Bedeutung für den guten Ruf Berlins. "Aber wenn ihr alle aufhören würdet, dann könnten wir von diesem Ruf immer noch zehn bis 15 Jahre leben." In de Picciottos Augen, so wird es im Video deutlich, sind diese zehn bis 15 Jahre inzwischen angebrochen.

Multimedial inszeniert: die Ausstellung "nineties berlin" in der Alten Münze. (Foto: Marcus Wichert; nineties berlin 2018)

Wer sich durch das touristische Angebot der Stadt blättert, der findet auch jenseits der Ausstellung "nineties berlin" genügend Hinweise darauf. Es gibt längst Stadtführungen zu den Orten, an denen einst die Alternativen feierten und wo heute schicke Neubauten stehen. Es gibt auch Stadtführungen durch Neuköllner Hinterhöfe und Kreuzberger Künstlerateliers. Die Berliner Alternativkultur gehört zu den Berliner Sehenswürdigkeiten wie das Brandenburger Tor oder die Museumsinsel. Ist sie nun mit Ausstellungen wie "nineties berlin" schon selbst ein Fall fürs Museum?

Das wäre richtig, wenn Berlins Geschichte nicht auch noch etwas anderes zeigen würde. Zwar schwelgen die Berliner gern in vergangenen Exzessen. Die beste Zeit ist dabei immer die, die man selbst mitgestaltet hat. Doch bisher war stets noch Platz für Neues. "Berlin ist Trotz", sagt auch Künstlerin Danielle de Picciotto. Irgendwann, so ist sie sicher, werden die Berliner aufbegehren gegen die Kommerzialisierung ihrer Kultur. Vielleicht sogar schon heute.

"nineties berlin", Alte Münze, Molkemarkt 2, Berlin-Mitte, 4. August 2018 bis 28. Februar 2019.

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