Neulich in Darjeeling, Indien:Sind wir verrückt?

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Der Schaffner winkt, ein Pfiff ertönt, doch dann: Wie eine allzu kurze Zugfahrt im indischen Darjeeling Touristen fast um den Verstand gebracht hätte.

Jochen Temsch

Schaffner strahlen doch überall auf der Welt eine besondere Macht und Würde aus. Dieser hier zum Beispiel trägt ein dunkelblaues Jackett und einen akkurat gestutzten Schnurrbart, der seinen stolzen Gesichtsausdruck unterstreicht. Sein Gang ist von einer selbstsicheren Gemächlichkeit, wie sie nur einflussreichen Persönlichkeiten zu eigen ist, die wissen, dass ohne sie nichts geht.

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So betritt der Schaffner das enge Abteil und erhebt eine zusammengerollte Zeitung zum Gruß. Er nickt den Fahrgästen so ernst und verheißungsvoll zu wie ein Zauberer vor Showbeginn.

Die Spannung der Touristen steigt: Was wird jetzt passieren?

Denn sie warten schon seit einer Dreiviertelstunde im Bahnhof von Darjeeling darauf, dass sich der Toy Train endlich in Bewegung setzt: drei Wägelchen, die an einer kleinen Dampflok hängen, die aussieht, als hätte sie Jim Knopf persönlich aus der Augsburger Puppenkiste gekramt.

Der offizielle Name des Zuges ist fast länger als er selbst: Darjeeling Himalayan Railway. Die Briten nahmen ihn 1881 in Betrieb, weil ihnen die Reiterei von der westbengalischen Metropole Shiliguri ins Hochland von Darjeeling zu beschwerlich geworden war.

Der Kolonist als solcher schwitzt ja nicht so gerne. Schon gar nicht, wenn er auf 90 Kilometern einen Höhenunterschied von 2000 Metern überwinden muss. Auch nicht, wenn er dafür die Schönheit des indischen Himalayas vor Augen hat.

Weil aber die Täler hier so eng und die Berghänge so steil sind, dass es quasi überhaupt keine breiten und ebenen Flächen gibt, musste der Zug so leicht und schmal sein, dass er im Zickzack vorwärts kommt. Seitdem keucht der Toy Train auf einer Spurweite von nur 60 Zentimetern die Teeberge hoch. Das heißt, wenn er nicht gerade im Bahnhof von Darjeeling steht.

Der Schaffner entrollt seine Zeitung und bringt ein darin eingewickeltes, rotes Fähnchen zum Vorschein. Ein Raunen geht durchs Abteil. Der Mann lehnt sich aus dem Fenster, schaut nach vorne, späht nach hinten und winkt. Es ertönt ein Pfeifen wie von einem Teekessel, und mit einem Ruck fährt der Toy Train an.

Euphorie unter den Touristen. Kameras heraus! Alles ans Fenster! Der Qualm der Lok ist schwarz und fettig. Die Kolben hämmern, die Maschine schnaubt. Mit Volldampf in die Berge!

Aber nach wenigen Sekunden ist die wilde Fahrt vorbei. Der Zug hält, es pfeift, der Schaffner winkt mit dem Fähnchen, dann zockelt der Toy Train rückwärts - aufs Nachbargleis. Der Schaffner rollt sein Fähnchen wieder in die Zeitung ein, verbeugt sich vor den Touristen und tritt ab.

Zuerst scherzen die Fahrgäste noch. Aber nach 20 Minuten auf dem Abstellgleis macht sich Ratlosigkeit breit. Heißt der Toy Train vielleicht deswegen Spielzeugeisenbahn, weil irgendwo ein fieser Alt-Kolonialist an einem Trafo sitzt, Touristen hin- und herrangiert und sich schlapplacht dabei?

Warum sehen die Bäume da draußen eigentlich aus, als seien sie aus Plastik? Warum bewegen sich die Kühe und Hunde nicht, die sich neben dem Zug auf die Gleise gelegt haben? Die sind doch mit Pattex aufgeklebt! Irgendjemand hat die Bergattrappen weiß angemalt, damit sie aussehen wie Achttausender. Und das Bahnhofsgebäude, das ist ja nicht einmal maßstabsgetreu.

Aber halt, wir sind nicht verrückt: Der Schaffner, der war echt.

Ob er jemals wiederkehrt?

© SZ vom 17.12.2009/dd - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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