Kulturhauptstadt 2004:Genua - Der Glaube an das Meer

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Nach einer langen Zeit der Lethargie könnte das renovierte Genua eine europäische Modellstadt sein.

Volker Breidecker

Das Meer gehörte der Stadt. Die "Königin der Meere", wie der vor siebenhundert Jahren geborene Dichter Francesco Petrarca die Hafenstadt Genua nannte, hatte mit ihrer Handels- und Kriegsflotte im Mittelalter ein Imperium errichtet, mit dem einzig die Adriatische Rivalin Venedig zu konkurrieren vermochte.

Genua - nahe am Wasser gebaut. (Foto: Foto: Reuters)

Seinen ökonomischen Reichtum hatte Genua aus dem Orienthandel bezogen. Als dieser im Gefolge der türkischen Expansion versiegte, investierten die führenden Familien der Stadt ihre brachliegenden Kapitale auf den internationalen Finanzmärkten.

Als Europas Großbank und privilegierter Leihgeber der neuen Supermacht Spanien, dazu im Besitz der schnellsten, größten und intelligentesten Schiffe, kontrollierte Genua die internationalen Seewege und die weltweiten Geldströme:

Begünstigt durch die Lage am Tyrrhenischen Meer und durch die Berge wie von einem Riegel vor dem italienischen Hinterland und seinen Verwerfungen geschützt, hatte Genua, anders als die übrigen italienischen Mächte und Stadtstaaten, den Anschluss an das im 16. Jahrhundert vom Mittelmeer nach dem Atlantischen Ozean verlagerte geopolitische Schwergewicht gefunden.

Von den Historikern wurde das nachfolgende 17. Jahrhundert, in dem das Genueser Patriziat seinen größten Reichtum entfaltete und in dem die Stadt wie ein Magnet Künstler aus ganz Europa anzog, zum "Jahrhundert Genuas" erklärt.

Insulanergefühle

Die Stadt gehörte dem, der vom Meer kam. Das Naturtheater der allmählich aus dem Wasser aufsteigenden und über steile Hügel und Vorgebirge emporschießenden Stadt versetzte die Schiffsreisenden der Vergangenheit in einen Rausch, wie nur das Auftauchen eines Traumgesichts:

"Das Feuer des Leuchtturms fing an zu verglimmen. Die Quais und die Masten der Schiffe wurden sichtbarer; die Gebirgsmassen traten aus der Dunkelheit hervor, und die Farbe des Meeres erhellte sich. Alle Gegenstände fingen an sich zu formen, und das ganze herrliche Amphitheater schien aus den Wellen emporzusteigen."

So schilderte ein deutscher Reisender des Jahres 1798, der sich in Amsterdam eingeschifft und die Passage über Madrid und Cadiz genommen hatte, die morgendliche Ankunft im Hafen von Genua.

Die räumliche Abgeschlossenheit der sich auf engstem Raum hinter ihren beiden natürlichen Hafenbecken in die Höhe ausdehnenden, nur zum Meer hin geöffneten Stadt ließ Genua zur atypischen Stadt Italiens werden, näher bei Istanbul oder Madrid, Tunis oder Lissabon als bei Mailand und Turin gelegen.

Das im Warenaustausch und im Handelsverkehr des Hafens herrschende Nomadentum und kosmopolitische Durcheinander hat sein Abbild in der eigensinnigen und ungezwungenen Insulanermentalität der Bewohner, die jeden Fremden als einen der Ihren betrachten, um keinen hilfreichen Fingerzeig verlegen sind und, wenn sie schüchtern um einen Rat oder nach einem Weg gefragt werden, gleich noch mehr gute Ratschläge und nützliche Wegweisungen gratis dazugeben.

Dennoch stand das moderne Genua bis vor wenigen Jahren in dem Ruf, eher eine Stadt der Abreise als eine Stadt der Ankunft zu sein. Auf anachronistische Weise war die Stadt, seitdem sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Selbstständigkeit als freie Stadtrepublik endgültig verloren hatte, durch Sperrgitter, Zäune und Zollgrenzen von ihrem natürlichen und mentalen Ausdehnungsgebiet, dem Hafen und dem Meer, abgeschnitten und weggesperrt:

Einst Perle, nun klaustrophobishe Stadt

Aus der Perle des Mittelmeeres mit der größten zusammenhängenden historischen Altstadt des Kontinents war eine klaustrophobische Stadt geworden. Die Fluchtlinien ihrer schmalen Gassen - manche von ihnen sind keine zwei Armlängen breit - fanden keine Öffnungen und keine Verlängerungen mehr.

Bei der mittelalterlichen sottoripa gegenüber dem Alten Hafen, langen Arkadengängen, die als vormals grandiose Meeresloggia die fehlende zentrale Piazza ersetzten (die mondäne Piazza de Ferrari stammt erst aus der Zeit der italienischen Einigung und ist den Bergen zugewandt), bei der sottoripa war die Stadt buchstäblich zu Ende. Wie unerreichbar, markierte Genuas Wahrzeichen, der große alte Leuchtturm, "Laterne" genannt, den Horizont.

Im dichten Gewimmel der Altstadtgassen, den caruggi, in denen auch weiterhin gehandelt und gefeilscht, geklönt und getändelt, gehurt und gezeugt wurde, blieb die Erinnerung an den Alten Hafen als lebendiges Sammelbecken und Umschlagplatz für Waren aus aller Welt und für Menschen aller Nationen und Zungen erhalten.

Desgleichen im einheimischen Dialekt, dessen Vokabeln von maritimem Treibgut, von den Echos sämtlicher Handelswege und Hafenstädte dieser Welt, vor allem aber vom Nachhall arabischer und türkischer Idiome zeugen.

Ihren Dialekt verstehen nur die Genuesen selbst, doch mit ihm und an seiner Seite trat noch eine weitere Handelsware ins Leben, die - auch und vor allem, als der Puls des bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts expandierenden Hafens ins Stocken geriet und stagnierte - in den Ohren haften blieb und sich zum wichtigsten genuesischen Exportgut entwickelte:

Melancholisches Liedgut

Die Musik und das zumeist etwas melancholisch gestimmte Liedgut der landesweit führenden Genueser Schule der cantautori, die als Nachfolger der fahrenden Poeten und Troubadours ihre Melodien, Texte und Arrangements selbst besorgen.

Ihr berühmtester Vertreter, der vor fünf Jahren gestorbene Fabrizio De André, stammte zwar aus einem der vornehmsten Häuser in den Hügeln von Genua, doch stieg er hinab in die Altstadt, um vom Leben der kleinen Leute und der Huren aus der Via del Campo und den Creuze de ma' zu singen, den Eselspfaden hinunter zum Hafen, die im 19. Jahrhundert von dem britischen Besucher Charles Dickens mit all ihrem Kehricht und Unrat geschildert wurden.

In dem Lied Creuza de ma' hatte De André eine Stimmenvielfalt aus lokalem Dialekt und exotischen Lauten mit Hafengeräuschen zu einem polyphonen Klangteppich verschmolzen.

In Genua wird De André heute beinahe wie ein Heiliger verehrt. Ein breiter Steg, der wie auf einem Ozeandampfer das von dem Genueser Stararchitekten Renzo Piano im alten Hafenbecken erbaute Aquarium flankiert, trägt seinen Namen.

Und gegenüber der Musikalien- und Devotionalienhandlung seines Freundes Gianni Tassio in der Via del Campo, die heute eine der vitalsten Straßen der Altstadt ist - so wie Tassios Laden das lebendigste und beredteste Museum der Stadt ist - , steht auf einer Gedenkplatte aus Schiefer ein Vers des Sängers. Schiefer, der nahe bei Genua abgebaut wird, ist auch der Stein, aus dem die Stadt gebaut ist.

Der Vers, der auf der Gedenkplatte wie in den Schaufenstern der umliegenden Geschäfte zusammen mit dem Porträt von De André abgebildet ist, klingt wie das mittlerweile verwirklichte Programm für die neue Blüte Genuas, für die Wiederaneignung des Alten Hafens durch die Bewohner und für die Wiederbelebung ihrer Altstadt: dai diamanti non nasce niente / dal letame nascono i fior (aus Diamanten wächst nichts / aus Mist wachsen Blumen).

Verödetes Hafenbecken

"Nehmen wir uns das Meer zurück!" Unter dieser Devise machten sich die Genueser Ende der achtziger Jahre daran, das drängendste Probleme ihrer Stadt zu lösen. Von der Krise und dem Ende des Industriezeitalters wurde die Stadt früher und härter als andere italienische und europäische Städte getroffen.

Das alte Hafenbecken war verödet, die im Zuge der Hafenerweiterungen seit dem 19. Jahrhundert ansässigen großen Fabriken der Schwerindustrie, die Genua zum wichtigsten italienischen Industriestandort neben Mailand und Turin machten, wurden stillgelegt oder wandten sich neuen Technologien zu.

In der Folge verlor Genua ein Drittel seiner Einwohnerschaft und galt noch bis vor kurzem, wegen seiner niedrigen Geburtenrate, als die "älteste", sprich am meisten überalterte Stadt Italiens. Jetzt muss sich Florenz diesen Schuh anziehen, während Genua im Aufwind ist.

Das Wunder, das die Stadt im Planungsverbund mit dem Team von Renzo Pianos "Building Workshop" zur Internationalen Kolumbus-Ausstellung im Jahr 1992 zustande brachte, war der Anfang einer Kehrtwende: Infolge der Sanierung, Umnutzung und Neubebauung des alten Hafenviertels liegt die Stadt heute wieder am Meer, und sie hat die für vielfältige öffentliche und private, kulturelle und ökonomische Zwecke nutzbar gemachte, lichtdurchflutete Piazza erhalten, die ihr fehlte.

Nachts im Labyrinth

Der nächste entscheidende Schritt, der in den vergangenen Jahren unternommen wurde, war die überfällige Sanierung der Altstadt. In den achtziger Jahren hatten sich vor allem die nahe beim Hafen gelegenen Quartiere zu Problemzonen der Verwahrlosung, der Kriminalität und des Drogenkonsums entwickelt.

Heute kann man, bei Tag und auch nach Anbruch der Nacht, wieder gefahrlos und unbeschwert in das Labyrinth der caruggi eintauchen. Im Gewühl der kleinen Gassen, Winkel und Treppenaufgänge wird man unvermeidlich die Orientierung verlieren und darf doch sicher sein, irgendwo an einer bereits vertrauten, aber unerwarteten und überraschenden Stelle wieder herauszufinden.

Ähnlich geht es dem, der von der Piazza Ferrari aus die schmale Salita San Matteo nimmt, um plötzlich auf einer kleinen, weit über dem Bodenniveau zur Bühne erhobenen Piazza vor der gleichnamigen romanischen, ehemaligen Hauskirche der Patrizierfamilie Doria mit deren Palästen zu stehen.

Vor der mit schwarzem und weißem Marmor inkrustierten Kirchenfassade steht ein einzelner Stuhl, auf dem in der Abenddämmerung, unter dem von den Häuserwänden reflektierten letzten, vom Hafen hinaufgeworfenen Licht ein Anwohner sitzt und in einem Buch liest.

Stunden später, in der Dunkelheit, steht der Stuhl immer noch da, ist aber verwaist und bietet sich an, von einsamer Warte aus der Nacht zu lauschen und den Stimmen und Schritten der wenigen Passanten, die vor der Bühne wie durch einen Orchestergraben laufen.

Anders als in den sanierten historischen Zentren vieler europäischer Städte ging die Wiederbelebung der genuesischen Altstadt bislang nicht zu Lasten einer infolge explodierender Bodenpreise vertriebenen Stammbewohnerschaft, auch nicht zu Lasten des bunten Völkchens von außereuropäischen Immigranten - aus dem Maghreb, aus Senegal, aus Peru, Equador und von anderswo -, die dort Wohnstätte und Erwerbsquelle gefunden haben.

"Keine Stadt ist lebendiger"

Die Bewohner der sanierten Häuser konnten stets in ihre Wohnungen zurückkehren, und in den Erdgeschossen wurden gezielt kleine Läden für jeden Bedarf angesiedelt. Ihre Betreiber sind international, so dass sich viele Straßen der Genueser Altstadt in Basare verwandelt haben, die kaum einer passiert, ohne entweder ein Liedchen vor sich hin zu trällern oder zumindest einer unbestimmten Melodie im Ohr zu folgen.

"Keine Stadt ist lebendiger", hatte Petrarca über Genua geschrieben, und einen ähnlichen Eindruck nimmt auch der Besucher der Europäischen Kulturhauptstadt 2004 von dort mit. Nach der langen Lethargie und Krise, die über der Hafenstadt lag, könnte Genua in dem Maße, wie es sich auf seine urbanen, sozialen und kulturellen Ressourcen besinnt und sie neu definiert, ein europaweites Modell abgeben.

Sein reicher Vorrat an Kunstschätzen und an Perlen der Architektur sämtlicher Epochen blieb in der Vergangenheit eher im Verborgenen.

Wie die Renaissance in dieser polyzentrischen, um enge nachbarschaftliche und klienteläre Mikrostrukturen herum organisierten und auch gebauten Stadt erst mit historischer Verspätung auftrat, weil die Genuesen sich vorwiegend ihren Geschäften und Fehden widmeten, so wurden hier doch in der Folge exquisite Ausschnitte aus allen Städten Italiens und auch des übrigen Europa importiert und zu einer einzigartigen urbanen Gestalt verschmolzen, die nichts ihresgleichen hat und die fast unversehrt erhalten geblieben ist.

Spiel und Kreativität

Als eine postindustrielle Stadt, die, indem sie ihre Zukunft projektiert, endlich auch ihre Vergangenheit angenommen hat, präsentiert sich Genua in diesem Jahr, wie von Grund auf erneuert, mit einer Vielfalt von Ausstellungen, Konzerten, Kongressen und mit unzähligen kleineren wie größeren Projekten, denen ein spielerischer und kreativer Umgang mit alten und neuen, nicht zuletzt auch mit menschlichen Ressourcen gemeinsam ist.

Wie an vielen anderen Orten wird auch an Genuas Prachtstraße Via Garibaldi, der lokalen Luxusmeile mit der weltweit schönsten Anreihung von Palästen und Gärten, noch gearbeitet.

Sogar die dort früher für neugierige Besucher verschlossenen Banken- und Amtsgebäude sind jetzt frei zugänglich. Genua setzt auf den Tourismus als neue Wirtschaftskraft.

Die Langsamkeit und Unsicherheit, mit der dies geschieht, hat den Charme des Unverbrauchten und lässt den Besucher zum Entdecker werden, während die Stadt selbst sich immer noch unterschätzt und nach geeigneten Wegen, Mitteln und Inhalten ihrer Selbstdarstellung sucht.

Aber sie ist im Fluss und in Bewegung. Und sie liegt wieder am Meer, da, wo sie und ihre Schätze herkommen. Eine andere Stadt? Genua scheint Europa zeigen zu wollen, dass sie möglich ist.

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