Dass der Dichter Thomas Bernhard an den Menschen, ja an der Welt gelitten hat, ist hinlänglich bekannt. Nur deshalb konnte er seine großartigen Theaterstücke schreiben, deren rhythmische Beschimpfungen zum Komischsten und gleichzeitig Tragischsten gehören, was in deutscher Sprache geschrieben wurde.
Dass Bernhard aber auch an der Angst vor dem "Probierzellenschlag" litt, wissen nur jene, die einmal sein Dramolett "Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen" gesehen oder gelesen haben. Probierzelle, das ist das Bernhard'sche Wort für Umkleidekabine in einem Bekleidungsgeschäft. Und der Protagonist des Stückes, der deckungsgleich mit dem Schriftsteller ist und der mit seinem Lieblingsregisseur Peymann eine Hose kaufen geht, klagt viel über den Stress, den er in der Umkleide beim Anprobieren empfindet und der in einem Probierzellen-Schlaganfall zu enden droht: Es ist heiß, der Verkäufer wartet draußen und will natürlich verkaufen, während man selber vielleicht nur schauen wollte, sich aber zum Anprobieren hinreißen ließ. Manche kennen das Gefühl - gerade jetzt, im Shopping-Rausch der Weihnachtszeit.
Gleichzeitig war Bernhard aber auch ein leidenschaftlicher Wirtshausgänger, der Zeit seines Lebens fast immer nur in Restaurants aß, gerne Deftiges, von der Frittatensuppe über die Essigwurst bis zum Gulasch. Und hier kommt nun eine weitere seltsame psychische Krankheit ins Spiel, von der Bernhard, soweit bekannt, noch nichts wusste, die ihm aber gefallen hätte. Es handelt sich um die Speisekartenangst.
"Menu anxiety", so stand es unlängst in der New York Post, sei vor allem in der Generation Z verbreitet, also unter den 18- bis 24-Jährigen. Demnach gehe es dabei vor allem um die immer weiter steigenden Kosten für Speisen und Getränke sowie um die Angst, nicht das richtige Gericht zu finden und die Auswahl am Ende zu bereuen. Bei einem Drittel der von einer amerikanischen Restaurantkette befragten 2000 Personen sei die Angst sogar so groß gewesen, dass sie andere Personen am Tisch darum bitten mussten, mit der Kellnerin oder dem Kellner zu sprechen.
Also handelt es sich wohl auch um eine Angst vor dem Kellner, was in den USA durchaus verständlich ist, da dort inzwischen davon ausgegangen wird, dass das Trinkgeld irgendwo zwischen 20 und 40 Prozent des Essenspreises liegen sollte. Eine Entwicklung, die übrigens mit schnellen Schritten über den Ozean nach Europa galoppiert.
Nun, was ist zu tun gegen derartige Phobien, die offensichtlich junge Menschen stärker befallen als ältere? Aus der Verhaltenstherapie wissen wir: Man soll sich aussetzen, konfrontieren mit dem Objekt der Angst, in diesem Fall: die Speisekarte beherzt in die Hand nehmen, sich genau drei Minuten geben, entscheiden und die Entscheidung durchziehen. Eventuell könnte man auch den Kellner anbrüllen.
Und hier kommt wieder Thomas Bernhard ins Spiel, der sehr unter den als arrogant bekannten Wiener Kaffeehauskellnern gelitten haben muss. Er schrieb: "Ich habe das Wiener Kaffeehaus immer gehaßt und bin immer wieder in das von mir gehaßte Wiener Kaffeehaus hineingegangen, habe es täglich aufgesucht, denn ich habe, obwohl ich das Wiener Kaffeehaus immer gehaßt habe, immer an der Kaffeehausaufsuchkrankheit gelitten."