Frankfurt:"Differenz zwischen tatsächlicher und gefühlter Sicherheit"

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Verteidigt seine Stadt: Der Frankfurter Polizeipräsident Gerhard Bereswill. (Foto: Bert Bostelmann/bildfolio)

Viele Frankfurter nehmen ihre Stadt als unsicher wahr. Der Frankfurter Polizeipräsident erklärt, was an dem Gefühl dran ist und was die Polizei dagegen tut.

Von Susanne Höll

Gerhard Bereswill ist ein ungewöhnlicher Polizeipräsident. Er ist kein Jurist und alles andere als breitbeinig - ein Mann, ein Herr der leisen Töne. Dem Pfälzer, Jahrgang 1957, fehlt jeder Hang zum Großstadtsheriff und zur Selbstdarstellung. Sein Büro in der Adickesallee ist so schmucklos wie sein Auftreten. Auf Gerhard Bereswills Schreibtisch liegen sorgsam geordnete Mappen, gleich daneben eine Tüte mit belegten Broten. Der einzige Zierrat in diesem Raum: ein grünes Ampelmännchen, an einer Hand baumelt ein türkisches Blauaugenamulett gegen böse Blicke. Das passt gut zu der Stadt, in der Menschen aus 180 Nationen vergleichsweise friedlich zusammenleben .

SZ: Herr Bereswill, gibt es eigentlich irgendwo einen Ort ohne Verbrechen?

Gerhard Bereswill (lächelt): Nein, den gibt es nirgendwo. Es gibt grundsätzlich zwei Extreme, den Polizeistaat, wo nur ganz wenige Verbrechen stattfinden, und die Anarchie als Gegensatz. Wir wollen beides nicht. Stattdessen leben wir in einer freiheitlich-liberalen Gesellschaft, in der das Verhältnis zwischen Freiheit der Bürger und Sicherheit immer neu ausbalanciert werden muss.

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Von Constanze von Bullion, Berlin, und Susanne Höll, Frankfurt

Wo liegt Ihr Maß?

Ich möchte, dass es nicht schlimmer ist als in anderen Großstädten. Aber ich weiß, dass wir beim jährlichen Vergleich der deutschen Metropolen schlecht abschneiden und auf dem Spitzenplatz bei Straftaten landen. Dann wird getitelt: "Hauptstadt des Verbrechens" oder "Hochburg der Kriminalität". Das finde ich nicht schön, auch weil die Vergleichszahlen hinken.

Was hinkt da genau?

Man berechnet die Zahl der Straftaten auf jeweils 100 000 Einwohner. Frankfurt hat 750 000 Einwohner. Rechnet man die Pendler, Touristen und Messebesucher hinzu, kommt man auf mehr als eine Million Menschen, die sich täglich in der Stadt aufhalten. Würde das berücksichtigt, sähen die Daten besser aus. Dann lägen wir vielleicht auf der achten Stelle. Das wäre auch ein für mich akzeptabler Platz.

Seit etlichen Jahren sinkt die Zahl der registrierten Delikte in der Stadt, zugleich steigt die Aufklärungsquote. Warum halten nicht wenige Deutsche Frankfurt dennoch für das deutsche Sündenbabel?

Der Rückgang wird nicht ausreichend wahrgenommen. Und es gibt die berühmte Differenz zwischen tatsächlicher und gefühlter Sicherheit. Irgendwo ereignet sich eine schreckliche Tat, es wird darüber berichtet, später noch einmal, wenn es zum Prozess kommt. Dadurch entsteht ein Gefühl der Bedrohung. Oder nehmen Sie die Zahl der Morde. In den letzten Jahren waren es deutschlandweit weniger als 300, inzwischen sind es wieder etwas mehr. Im deutschen Fernsehen werden in jedem Jahr etwa 13 000 Morde in Kriminalfilmen gezeigt. Die Zuschauer wissen, das ist alles fiktiv. Aber dennoch bleibt ein ungutes Gefühl. Die Leute, das muss ich leider sagen, haben mehr Angst als nötig.

Wie viel Angst muss eine Frankfurterin in gesetzterem Alter in der Stadt haben?

Deutlich weniger als junge Leute. Zieht man Drogendelikte ab und Verstöße gegen Aufenthalts- und Passgesetz, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass einer erwachsenen Frau etwas zustößt.

Auch im Bahnhofsviertel, dem Mittelpunkt der Rotlicht- und Drogenszene, das sich zum Ausgehviertel gemausert hat?

Auch dort. Wenn Sie nicht im Milieu aktiv sind, ist auch hier das Risiko gering. Auch deshalb, weil dort mittlerweile stärker kontrolliert wird. Die Zahl der Raubdelikte ist inzwischen auch gesunken.

Ihre Kinder sind erwachsen. Hätten Sie ihnen in Teenagerjahren einen Bummel im Bahnhofsviertel gestattet?

Ja, vor zehn Jahren schon. Vor 20 Jahren wohl nicht. Aber da waren sie noch zu klein.

Ist die Einkaufsstraße Zeil bei Nacht inzwischen gefährlicher als der Bahnhof?

Nein, ganz sicher nicht.

Wer nach Mitternacht die Konstablerwache passiert, fühlt sich ziemlich unwohl.

Die Konstablerwache ist ein Treffpunkt der Drogenszene. Deshalb haben wir die Örtlichkeit ebenfalls intensiv im Fokus.

Als Sie zur Polizei kamen, gab es noch das Bild vom "Freund und Helfer". Davon ist heute nicht mehr die Rede.

Die Arbeitsbedingungen der Polizisten und die Gesellschaft haben sich geändert. Heute gibt es keine Schupos mehr, die durch die Viertel gehen und die Leute dort kennen. Wir wollen diese Tradition wiederbeleben in Frankfurt, möchten junge Polizistinnen oder Polizisten für solche Aufgaben gewinnen. Ich bin auch überzeugt, dass etliche unserer Beamten zur Polizei gekommen sind, weil sie helfen wollen, insbesondere den Menschen und dem Rechtsstaat.

Die Polizei muss auf der Straße den Rechtsstaat gegen Randale von rechts oder auch - wie bei der Eröffnung der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt 2015 - von links verteidigen. In Chemnitz hatten vergangenes Jahr rechte Marodeure das Sagen. Wären solche Szenen auch in Frankfurt denkbar?

Nein, das glaube ich nicht. Die Frankfurter sind in diesen Dingen anders, hier gibt es eine liberale, tolerante Bürgergesellschaft, die sich nicht von Ressentiments treiben lässt.

Um den Rechtsstaat zu verteidigen, muss die Polizei das Vertrauen der Bürger genießen. Die Frankfurter Polizei hat wegen der mutmaßlich rechtsextremen Chatgruppe, die womöglich in die Bedrohung einer Anwältin verwickelt ist, Vertrauen eingebüßt. Spüren Sie diesen Verlust?

Natürlich. Meine Kollegen und ich werden überall in der Stadt darauf angesprochen. Und wir wissen selbst nur zu gut, was das für unseren Ruf bedeutet. Aber man nimmt uns ab, dass alles versucht wird, um diesen Fall aufzuklären und auch präventiv tätig zu werden.

Die Klärung kommt aber nicht voran.

Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.

Man hört, die Beschuldigten schweigen.

Wie gesagt: Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.

Hat man im Sicherheitsapparat die Gefahr der Radikalisierung von Kollegen unterschätzt?

Nein, hier in Frankfurt und anderswo auch gibt es Seminare und Fortbildungen, bei denen die Beamtinnen und Beamten lernen, ihr Bild von der Arbeit und sich selbst zu reflektieren. Wir achten bei der Einstellung der Anwärter sorgfältig darauf, ob die charakterlichen Voraussetzungen stimmen. Es gibt in der Polizei ein ganzes Netzwerk, inklusive psychologischer Experten, die in schwierigen Fällen Sorge tragen.

Aber wieso, bitte schön, flog die Gruppe dann nicht viel früher auf?

Die Kollegen aus dem Revier versichern mir, dass sie dies nicht bemerkt haben. Das mag für Außenstehende seltsam klingen. Aber die Beamten arbeiten in Schichten, etliche pendeln, längst nicht alle pflegen private Kontakte. Und wer sich strafrechtlich relevante Nachrichten schickt, macht das nicht im Einsatzwagen, vor den Augen der Kollegen. Jeder, der das tut, weiß, dass er mit Konsequenzen zu rechnen hat.

Hat der Korpsgeist, die oft verhängnisvolle Schweigetradition , die verdächtigen Polizisten geschützt?

Wenn, dann muss es völlig falsch verstandener Korpsgeist gewesen sein. Wir sagen allen Beamtinnen und Beamten: Ihr müsst euch beim Einsatz aufeinander verlassen können. Aber wenn das Weltbild eines Kollegen verrutscht, wohin auch immer, muss man es sagen. Nur so können wir anständig und rechtsstaatlich arbeiten.

Experten sagen, Beamte radikalisierten sich im Dienst, weil die Belastung hoch sei und etliche bei der Arbeit nur noch die Schattenseiten der Welt sähen.

Die Kollegen sind unterschiedlich belastet. Manche haben sehr fordernde Einsätze, körperlich anstrengend, mental auch oder beides zusammen. Wir bieten aktuell Hilfe an, und ich kann mir gut vorstellen, die Angebote zukünftig noch zu erweitern.

Supervision für Polizisten?

Ja, in anderen Berufen ist das längst an der Tagesordnung, bei Sozialarbeitern etwa.

Passt das tatsächlich zum Bild eines starken Mannes oder einer starken Frau in Uniform?

Dankenswerterweise immer öfter. Als ich ein junger Polizist war, gab es so etwas überhaupt nicht. Da sagte der Kollege nach einem belastenden Einsatz: "Komm raus, wir rauchen eine Zigarette." Das war es in Sachen Verarbeitung. Damals wäre keiner freiwillig zum Psychologen gegangen. Heute weiß man, dass solche Gespräche sehr hilfreich sind.

Als Sie ein junger Polizist waren, gab es sicher auch keine Fehlerkultur, die ihren Namen verdient hätte.

Über Fehler beim Einsatz wurde damals nie diskutiert. Das wurde gar nicht erwähnt. Wir haben Fortschritte gemacht. Bei so gut wie jedem Großeinsatz werden Fehler gemacht. Wir analysieren hinterher, was nicht geklappt hat. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um taktische und organisatorische Irrtümer und Versäumnisse.

Bei den Ausschreitungen gegen die EZB-Eröffnung wurde die Polizei zunächst überrannt, es wurde Feuer gelegt und Reizgas versprüht. Was lehrte Sie die Fehleranalyse?

Wir hatten damals keine vollständigen Informationen über alle geplanten Aktionen, hatten uns auf Gewalttätigkeiten im Lauf des Tages, aber nicht auf solche so früh am Morgen eingerichtet.

Warum wollen junge Leute angesichts dieser Arbeitsbedingungen heutzutage noch zur Polizei?

Weil sie mit Menschen arbeiten möchten, nicht im Büro. Die meisten wissen, was sie erwartet. Und es sind nicht nur die Jungen, die ihre Arbeit schätzen. Auch ältere Kollegen sagen, sie hätten ihren Traumjob.

Und warum wollten Sie eigentlich Polizeipräsident werden, wo jeden Moment etwas passieren kann, mitunter eben auch Fehler?

Ich habe mir gut überlegt, ob ich das Angebot seinerzeit annehmen sollte. Wissen Sie, ich kenne viele Bereiche der Polizei, war bei der Streife, bei der Kripo, in Sondereinheiten und in Führungspositionen. Da sammelt man Erfahrung. Die bringe ich gern ein.

© SZ vom 14.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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