Ermittlungen nach dem Verbrechen in Frankfurt:Ein Fall, der die Gesellschaft tief ins Herz trifft

Attacke im Frankfurter Hauptbahnhof

Polizisten und Feuerwehrleute spannen im Hauptbahnhof eine weiße Plane als Sichtschutz vor den ICE, vor den ein achtjähriger Junge geworfen wurde.

(Foto: dpa)
  • Nach der Tat am Frankfurter Hauptbahnhof, wo ein Mann einen Jungen und dessen Mutter vor einen einfahrenden Zug stieß, schweigt der Verdächtige zu seinem Motiv.
  • Doch es werden immer mehr Details über sein Leben bekannt. Über lange Zeit scheint er ein unauffälliger Zeitgenosse gewesen zu sein.
  • Vergangene Woche endete dieses unauffällige Leben. Da bedrohte er laut den Ermittlern in Zürich eine Nachbarin mit einem Messer und sperrte sie und seine Familie in der Wohnung ein. Seither war er verschwunden.

Von Constanze von Bullion, Berlin, und Susanne Höll, Frankfurt

Am Frankfurter Hauptbahnhof fahren die Züge wieder regelmäßig, Normalität aber ist längst nicht eingekehrt. Am Zugang zu Gleis sieben liegen Blumen, Grablichter, Kuscheltiere. Fahrgäste gehen mit gesenktem Kopf vorbei. Am Abend versammeln sich Hunderte zu einer Andacht auf dem Bahnhofsvorplatz. Dass ein Mann einen achtjährigen Jungen und dessen Mutter am Montag vor einen einfahrenden Zug stieß, wühlt die Menschen auf, weit über Frankfurt hinaus. Was bewegt einen Mann, arglose, ihm unbekannte Reisende auf ein Gleis zu stoßen? Auf die Frage können die Ermittler auch gut 24 Stunden nach der Tat noch keine umfassende Antwort geben.

Denn der Verdächtige Habte A., ein Eritreer, schweigt nach Angaben der Staatsanwaltschaft zu seinem Motiv. Doch es werden immer mehr Details über sein Leben bekannt. A. kam nach offiziellen Angaben 2006 als Asylbewerber in die Schweiz, erhielt 2011 Asyl mit einem sicheren Aufenthaltsstatus und lebte im Kanton Zürich. Er ist verheiratet und selbst Vater von drei Kindern. Der 40-Jährige war laut den Ermittlern zur Tatzeit nicht betrunken und stand auch nicht unter dem Einfluss von Drogen.

Überhaupt scheint der Beschuldigte über lange Zeit das Gegenteil eines auffälligen Menschen gewesen zu sein. Die Mutter und ihren getöteten Sohn, die aus dem Hochtaunuskreis bei Frankfurt kamen, kannte er offenbar nicht. So wie die 78 Jahre alte Dame, die er ebenfalls auf das Gleis stoßen wollte, erfolglos. Die Frau stürzte auf den Bahnsteig, kam mit einem Schock und einer Schulterverletzung davon. Die Mutter des Achtjährigen schaffte es, sich aus dem Gleisbett zu rollen. Der Junge aber starb noch am Tatort.

In einer Publikation seiner Firma wird der Mann als Beispielfall gelungener Integration erwähnt

Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hat Haftbefehl gegen den Mann beantragt, wegen Mordes und zweifachen Mordversuchs. Seine psychische Gesundheit wird im Laufe des Verfahrens mit Sicherheit untersucht werden. Laut der deutschen Bundespolizei, die in Kontakt mit Behörden der Schweiz steht, galt Habte A. lange Zeit als gut integriert. "Er ist einer festen Arbeit nachgegangen", sagte Dieter Romann, Präsident der Bundespolizei, der am Dienstag zusammen mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und dem Chef des Bundeskriminalamts, Holger Münch, in Berlin vor die Presse trat. Habte A. galt bei seinem Arbeitgeber, den Verkehrsbetrieben Zürich, als vorbildlicher Mitarbeiter. In einer Publikation der Förderorganisation SAH Zürich wird er als Beispiel gelungener Integration dargestellt, er habe "viel Geduld und Durchhaltewillen" gezeigt.

Vergangene Woche endete dieses unauffällige Leben. Am Donnerstag bedrohte er laut den Ermittlern in Zürich eine Nachbarin mit einem Messer, sperrte sie, seine Frau und seine Kinder im Alter von einem, drei und vier Jahren in der Wohnung ein. Seither war er verschwunden. Bei einer Hausdurchsuchung entdeckten die Beamten Unterlagen, wonach der Mann wegen psychischer Probleme in Behandlung war. Hinweise auf eine Radikalisierung oder einen ideologischen Hintergrund fanden sie nicht. Zuvor war der Mann nur wegen eines Verkehrsdelikts aufgefallen. Die Öffentlichkeit wurde über die Attacke nicht informiert, auch nicht darüber, dass er gefährlich sein könnte. A. hatte bis 2019 gearbeitet, seither war er krankgeschrieben wegen seiner psychischen Probleme.

Er wurde zur Fahndung ausgeschrieben, dennoch reiste A. - offenbar ganz legal - nach Deutschland ein. Die Schweizer Behörden hätten die deutschen Kollegen nicht über die Fahndung informiert, sein Name sei in keiner europäischen Datenbank registriert, hieß es am Dienstag im Bundesinnenministerium in Berlin. Zu asylrechtlichen Verstößen in Deutschland sei es nicht gekommen, "sodass ich jetzt aufenthaltsrechtlich keinen Änderungsbedarf sehe", sagte Seehofer.

Bevor es zu einer Anklageerhebung gegen Habte A. kommt, müssen nun etliche Fragen beantwortet werden. Warum reiste der 40-Jährige vor einigen Tagen von Basel aus nach Frankfurt? Handelte er im Wahn? Ist er womöglich ein Nachahmungstäter, der sich andere Bahnsteigschubser zum Vorbild nahm? Oder hat die Tat etwas mit dem Anschlag auf einen anderen Eritreer im südhessischen Wächtersbach zu tun? Ein Deutscher, offenbar getrieben von Rassismus, hatte dort kürzlich aus dem Auto auf einen Eritreer geschossen und ihn schwer verletzt. Der mutmaßliche Täter tötete sich anschließend selbst. Nadja Niesen, die Sprecherin der Frankfurter Staatsanwaltschaft, sagte, für einen Zusammenhang zwischen den beiden Taten gebe es bislang keine Hinweise. Habte A. kommt nun in Untersuchungshaft, dies entschied das Amtsgericht Frankfurt.

Der Fall treffe die Gesellschaft "tief ins Herz", sagt Seehofer

In Berlin wurde unterdessen deutlich, wie schwierig es für die Sicherheitsbehörden ist, solchen Verbrechen künftig besser vorzubeugen. Bundesinnenminister Seehofer sprach von einer "Werteerosion" in Deutschland, die er bekämpfen wolle. In den vergangenen Wochen habe es eine ganze Reihe von Straftaten gegeben, die von der Belagerung einer Polizeistation durch bayerische Schüler bis hin zu dem offenbar rechtsextremistisch motivierten Übergriff in Hessen gereicht hätten. Der Fall am Frankfurter Hauptbahnhof treffe die Gesellschaft "tief ins Herz", obwohl die Kriminalität insgesamt abnehme. Nötig seien neben Spitzengesprächen mit der Bahn und dem Bundesverkehrsminister womöglich auch Umbauten an den Bahnsteigen.

Diskutiert werden beispielsweise neue Sicherungssysteme für Bahnsteige, ähnlich wie in manchen asiatischen Staaten. Dort ist die Bahnsteigkante baulich vom Gleisbett getrennt, mit einer Barriere oder elektrischen Türen, die sich erst nach Einfahrt des Zuges öffnen. Die Deutsche Bahn hat bereits abgelehnt: zu teuer. Seehofer zeigte sich verärgert über diese Reaktion. Es müsse "vorurteilsfrei" über bauliche Neuerungen nachgedacht werden, sagt er.

Auch eine verstärkte Videoüberwachung war Thema. Schon in früheren Jahren, etwa 2016 in Berlin, hatten Kameras Ermittlern wichtige Hinweise auf einen sogenannten U-Bahn-Schubser gegeben. Damals stieß ein 28-Jähriger eine Studentin mit voller Wucht eine Treppe hinunter. Sie brach sich den Arm und trug eine Platzwunde am Kopf davon. Die Aufnahmen wurden veröffentlicht, der Täter stellte sich daraufhin der Polizei.

Die Straftat selbst verhindern allerdings können auch solche Kameras nicht. Dennoch halte er verstärkte Videoüberwachung für sinnvoll, zusammen mit weiterer Personalverstärkung bei der Polizei, sagte Seehofer. "Das Zusammenspiel zwischen Personal und technischen Möglichkeiten - das ist es, was die Sicherheit für die Bevölkerung erhöht."

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