Gemütlich? Von wegen. Vom Himmel grieselt nasser Schnee, der Wind pfeift unangenehm. An vielen Ecken eine Shisha-Bar, die Türen verriegelt, jetzt, in der nassen Kälte des Januars, hält sich die Feierlaune in sehr engen Grenzen. Kneipen, in denen es Bier zum Meterpreis gibt, sind dunkel. Willkommen in Alt-Sachsenhausen, einem Teil Frankfurts mit, nun ja, widersprüchlichem Ruf.
Einst glaubten Leute, jedenfalls jene, die von Frankfurt wenig Ahnung hatten, die Gegend rund um die Klappergass' sei ein Hort der Apfelwein-Romantik, ein Quartier, in dem es so behaglich zugehe wie in der seinerzeit höchst beliebten Fernseh-Volksmusiksendung "Zum Blauen Bock". Inzwischen ist es bundesweit bekannt als Amüsierviertel, in dem man es im Sommer krachen lassen und Junggesellen-Partys in Häschen-Kostümen feiern kann. Wo, bitte schön, ist die Apfelwein-Kultur geblieben? Eine Spurensuche nach einem Getränk, das so umstritten ist wie das Quartier.
Am Rondell mit dem schönen Namen Affentorplatz, direkt gegenüber der Caritas-Frauenberatungsstelle, liegt eine Schenke neben der nächsten. Urwüchsig? Nicht unbedingt. Die eine bietet neben dem traditionellen Schoppen einen "Ebberol-Spritz" an, eine Mischung aus Apfelwein - im heimischen Idiom Ebbelwoi genannt - und Aperol sowie Mineralwasser. Mode-Drink. Hätt' es früher niemals gegeben, sagen Einheimische. Die Konkurrenz nebenan hat die Speisekarte in zehn Sprachen ausgehängt, selbst an Japaner, Chinesen und Koreaner wurde gedacht. Massengeschäft? Im Sommer sicher. Reisegruppen machen oft einen Abstecher nach Sachsenhausen. Weiter durch den Wind.
Um ein paar Ecken herum in die Dreieichstraße. Ein Altbau, die Wirtschaft namens "Zu den 3 Steubern". Eine Sachsenhäuser Legende der besonderen Art. Ein vergleichsweise kleiner Gastraum, Holztische und Bänke, keinerlei Firlefanz, Gardinen mit altmodischen Mustern. Der Kellner, ein, wie sich alsbald herausstellen wird, Vertreter der traditionellen Frankfurter Zunft, weist einen Platz zu. Eine Begrüßung erspart er sich. Hinter der Theke steht der Besitzer Wolfgang Wagner, er geht auf die 90 zu. Bis vor ein paar Jahren hat er seinen Wein noch selbst gekeltert, inzwischen kauft er sein Stöffche, so sagt man, außer Haus.
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Die Speisekarte ist überschaubar: Handkäse, der, wie die Tischnachbarn erzählen, in einer Schublade aufgehoben wird, ein paar Wurstsorten, Soleier gibt es an diesem Abend auch. Das Glas Apfelwein kostet 1,70 Euro, preiswerter geht es nicht. Man ordert ihn pur oder mit Mineralwasser versetzt. Wer sich blamieren möchte, verlangt Bier oder einen Süßgespritzten, Wein mit Limonade. Das gilt als barbarisches Memmengetränk. Der Kellner nimmt die Bestellung wortlos auf. "Der hat es auch nicht immer leicht", erklärt eine Banknachbarin das schroffe Verhalten. In Sachsenhäuser Puristen-Schenken geht es eben spartanisch zu. Keine Musik, kein Schunkeln, direktes Licht, kein Gedöns, kein "Blauer Bock". Gemütlich? Nein. Aber typisch. Hier lernt man ein Fremden verborgenes Stück Frankfurt kennen.
Am Tisch sitzen zwei Damen, fortgeschrittenes Alter, beide verwitwet. Gediegen schicke Kleidung, die Haare onduliert. Daheim fällt ihnen die Decke auf den Kopf, sie gehen gern aus, auf ein paar Gläser. Die zwei haben sich nicht verabredet, man kennt sich aus den Stammlokalen und trifft sich dort auch immer wieder. Für die zwei - und andere auch - ist der Schankraum ein zweites Wohnzimmer. Niemand fremdelt - mit Ausnahme des Kellners. Die Damen erzählen, vom Leben, vom Wein und von ihrer Sorge, dass die Wirtschaft zumacht, wenn der Wagner nicht mehr sein sollte.
Der Apfelwein gilt als Getränk des kleinen Mannes. Na ja. Als die Rebstöcke vor zwei Jahrhunderten in Frankfurt starben, die Reblaus soll schuld gewesen sein, kelterte man den Wein eben aus Äpfeln. Sachsenhausen war ein Viertel kleiner Leute. Aber in den Wirtschaften, den kleinen und später großen, traf sich die Stadtgesellschaft. Der Gerichtspräsident saß neben dem Handwerker, der Student neben der Frau des Bankdirektors. Frankfurt war - und ist - eine offene Gemeinschaft, in der jeder mit jedem gern ein Schwätzchen hält. Dass Apfelwein ein biederes Image hat, ist diesen Fans schnurzegal.
Anderen nicht. Michael Rühl etwa, gebürtiger Sachsenhäuser und Marketing-Mann im Hauptberuf. Seit 2012 führt er zusammen mit Kollegen das Apfelwein-Kontor, ein Fachgeschäft für die gehobeneren Apfelweinprodukte. Sortenreiner Wein, gewonnen nur aus Boskop etwa, versehen mit anmutigen Etiketten einer Frankfurter Zeichnerin, die ansonsten Wimmelbilder malt. "Apfelwein kann anders sein und war auch früher anders. Es gibt den Spruch, der Wein schmecke erst nach dem dritten Glas. Wir und andere wollen zeigen, dass schon das erste Glas sehr fein sein kann", sagt der 46-Jährige.
Ja, stimmt. Wer ein gebrochenes Verhältnis zum Apfelwein, also einmal ein essigstichiges Getränk erwischt hat, womöglich in fataler Kombination mit einer Sauerkraut-Portion, kann sich mit Rühls Produkten aussöhnen. Leicht, wenig Alkohol, spritzig. Solche Qualität hat ihren Preis. Acht, zwölf oder mehr Euro kann die Flasche schon kosten. Kein Wunder, diese Weine machten mehr Arbeit, die Früchte würden handgepflückt, sagt Rühl. Für die Anhänger der Puristen-Schule seien diese Preise zu hoch. In Frankfurt müsse der Schoppen preiswert sein.
Allein mit dem Laden könnten Rühl und seine Kollegen kein Geschäft machen. Sie bieten Degustationen an. Das laufe gut, besonders dann, wenn die Gäste keine Vorurteile hätten in Sachen Apfelwein. Ist er ein Fanatiker? Nein, sagt Rühl, er nicht, andere aus der Szene seien es schon. Da gebe es Winzer, die seien besessen davon, das Allerbeste aus den Äpfeln herauszuholen. Er selbst beschreibt sich eher handwerklich, mit dem englischen Ausdruck Cider-Maker. Apfelweinmacher heißt das.
Frank Winkler darf man hingegen zu den Fanatikern zählen. Der 62-Jährige hat jahrelang als Marketing- und Kommunikationsberater gearbeitet, zusammen mit seiner Frau ein Landhotel im Odenwald geführt und ist nun Pächter des Lorsbacher Thals, einer der großen Wirtschaften in Sachsenhausen. Er sagt: "Apfelwein ist nicht mein Hobby, es ist meine Leidenschaft." Etwa 200 unterschiedliche Produkte aus aller Welt hat er im Keller liegen. Seine Frau schmunzelt gelegentlich über seine Passion und sagt: "Am Anfang hattest du die Sache noch im Griff." Winkler ist ein Spätberufener. Vor ein paar Jahren stellte ein Freund beim Essen zum Dessert eine Flasche auf den Tisch, einen Holzapfel-Süßwein der schwäbischen Obstweinmanufaktur Jörg Geiger. Winkler war hingerissen. So begann die Leidenschaft. Inzwischen lässt er die Gäste teilhaben, serviert dazu traditionelle Frankfurter Speisen in feinerer Form. Karg-puristisch geht es bei ihm nicht zu. Auf den Holzbänken liegen Kissen, das Personal wird zu Freundlichkeit angehalten. Bier gibt es auch. 50 Hektoliter werden jedes Jahr ausgeschenkt. "Als Gastronom wär' man doch ein schlechter Kaufmann, auf die Wünsche der Gäste nicht einzugehen und auf diese Umsätze zu verzichten", sagt er. Seine Klientel sind Einheimische und Besucher, die den eher herben Ton in anderen Wirtschaften befremdlich finden.
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Auch Winkler attestiert dem Apfelwein ein Imageproblem. Die Präsentation der großen Hersteller sei noch immer etwas altbacken. "Die Großen sind noch im Gestern - die Jungen sind auf dem Weg ins Übermorgen", sagt er. Nicht jedem Zeitgeist müsse man hinterherlaufen, aber schon ein frisches Design wirke Wunder. Von Marketing versteht der Mann etwas.
Wie steht es um das Zusammenleben zwischen den Apfelwein-Trinkern der unterschiedlichen Schulen einerseits und den Hordentrinkern aus den Bierbars? Winkler sagt, an manchen Sommer-Wochenenden sei es nicht sehr lustig. Dann wird in den Sträßchen gegrölt, getorkelt und gespien. Aber ansonsten funktioniere das alles ganz gut. Für Dramatik gebe es keinen Grund. Rühl würde es sich im Viertel manchmal beschaulicher wünschen. Aber im Moment habe jede Welt ihren Platz, die der Klein-Ballermann-Szene und die der Apfelwein-Fans auch. Er erinnert daran, dass Sachsenhausen auch in früheren Jahrzehnten ein ziemlich aufregendes Ausgehviertel war. Das Viertel der in Frankfurt stationierten US-Soldaten. In deren Bars ging es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hoch her. Die Militärpolizei rückte ziemlich regelmäßig an. Die Apfelwein-Kultur in Alt-Sachsenhausen hat es überlebt.