Eisstraße in Kanada:Highway ins Helle

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Bisamratten um die Wette häuten, möglichst schnell Tee aus Schnee zubereiten - an der Eisstraße von Kanada vertreiben sich die Menschen mühsam die Zeit.

Bernadette Calonego

Ein verrücktes Wochenende. Winnie Gruben hastet an den Häusern von Tuktoyaktuk entlang. Es ist der erste sonnige Wintertag für das abgelegene Dorf der Inuvialuit, wie sich die Inuit in der westlichen Arktis der kanadischen Northwest Territories nennen. Hinter der kleinen katholischen Kirche dehnt sich das vereiste Nordpolarmeer aus, das hier Beaufortsee heißt. Es ist fast nicht zu unterscheiden vom schneebedeckten Land. Winnie, eine geschäftstüchtige Inuvialuit-Frau, sucht einen Schlüssel zum Eishaus. Viele Familien in Tuktoyaktuk besitzen einen, nur heute will keiner davon hören.

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Ein Großteil der 1000 Dorfbewohner feiert gerade die Hochzeit eines jungen Mannes mit dem Rufnamen Hammer in der Kitty Hall. "Wird er heute gehämmert?", scherzt die 73-jährige Alice, die Winnie über den Weg läuft. Beide lachen. Humor ist wichtig für das Überleben in der unwirtlichen Eiswelt der Arktis. "Hast du einen Schlüssel fürs Eishaus?", fragt Winnie. Alice nickt, aber dann gesteht sie, dass sie ihn verlegt hat.

Wirklich ein verrücktes Wochenende.

Viele Leute aus Tuktoyaktuk sind auf der Eisstraße in die nächstgelegene Siedlung Inuvik gefahren, zum Muskrat-Jamboree, dem nordischen Frühlingsfest. Die Eisstraße über das zugefrorene Delta des Mackenzie-Flusses, des längsten Stroms in Kanada, gibt es nur im Winter. Diese Gelegenheit haben auch die Touristen aus Europa genutzt, die jetzt auf Winnie warten. Für die Fremden ist die 180 Kilometer lange Fahrt auf der Eisstraße von Inuvik nach Tuktoyaktuk ein Urlaubsabenteuer. Für die Menschen in Tuk, wie sie das nördlichste Dorf auf dem kanadischen Festland nennen, ist sie eine Lebensader.

Transporte auf der Eisstraße sind viel billiger als mit Flugzeugen und Fähren im Sommer. Schwere Trucks können ganze Fertighäuser, Lebensmittel, Güter für Tuk und für die Öl- und Gasunternehmen draußen im Eis befördern. Aber nur, wenn das Wetter mitspielt. Winnies Schwager Merven Gruben, einer der einflussreichsten Männer in dieser Gegend, lässt die Eisstraße sperren, wenn ein Blizzard über das Delta fegt und die Fahrzeuge im Schnee steckenbleiben. Stets fährt die Furcht vor tiefen Spalten im Eis mit.

In Tuks Schule findet Winnie endlich jemanden mit einem Schlüssel. Sie öffnet den Eingang zur Hütte und zieht die Klapptür über einem zehn Meter tiefen Loch hoch. Staunen bei den Besuchern. Vorsichtig klettern sie auf der vereisten Leiter in die Tiefe des arktischen Permafrostbodens.

Winnie Gruben, die unter Höhenangst leidet, war noch nie in diesem unterirdischen Labyrinth von 20 Kammern, in dem die Familien ihre Vorräte lagern: vor allem Beluga-Wal, Fische, Robben, Karibu, Elch und Gänse.

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Ein penetranter Geruch steigt nach oben. "Das Fass nicht berühren, da ist Walöl drin", ruft Winnie. Im Schein von Taschenlampen tasten sich die Touristen durch die von glitzernden Eiskristallen besetzten Erdgewölbe. Winnie verabschiedet sich. Im Frühjahr gibt es in Tuk viel zu tun. Vorbei sind die Wintertage ohne Licht, an denen man nur Lotto spielen und sich mit Essen vergnügen konnte.

(Foto: Karte: SZ-Grafik)

Ein stahlblauer Himmel spannt sich über den beiden eingeschneiten alten Kirchen, über der ausgedienten Militärstation am Dorfrand, dem Eisbärenfell auf dem Dach des Jägers Joe Nasugaluak und den Schneemobilen vor dem einzigen Supermarkt. Mit so einem Schneemobil fährt Inung Ron Felix, der Schnitzer, jetzt einmal die Woche nach Inuvik. Er lässt den Arktischen Ozean hinter sich und die Pingos, die seltsamen hohen Erdhügel mit einem Kern aus Eis, die wie Frostbeulen aus der Ebene ragen.

Er gleitet an einem verlassenen Pickup-Truck vorbei, der mit einem Achsenbruch in der Schneeverwehung steckt. Ein weiße, endlose Eiswüste dehnt sich auf beiden Seiten aus. In dieser einfarbigen Landschaft kann man leicht die Orientierung verlieren, eine feste Spur sehen, wo tiefer Schnee wie eine tödliche Falle lauert.

Eineinhalb bis zwei Meter dicke Eisschicht

An manchen Stellen hat der Wind den Schneestaub vom Eis poliert. Es schimmert bläulich, mit schwarzen Zwischenräumen, überzogen von einem Geflecht aus weißen Linien - ein gefrorenes Kaleidoskop. Eineinhalb bis zwei Meter dick ist die Eisschicht, stark genug für die riesigen Laster, die dem einsamen Schneemobilfahrer entgegenkommen oder ihn überholen. Inung weicht ihnen genauso aus wie den gefährlichen Rissen. Plötzlich ein farbiger Punkt in all dem Weiß.

Nicht weit von der Piste frisst ein Rotfuchs von einem zerrissenen Elchkadaver.

Fünf Stunden braucht Inung nach Inuvik und zurück, um seine Schnitzereien aus Walknochen und Karibugeweih an die dortige Galerie zu verkaufen. Damit ernährt er seine große Familie. "Ich lasse mir Zeit", erzählt er später, "und genieße die Frühlingswärme." Damit meint er 25 Minusgrade.

Wenn die auf der Böschung aufgebahrten Schiffe des Mackenzie-Flusses auftauchen, die dort auf den Sommer warten, dann hat er Inuvik erreicht, einen Ort mit 3500 Bewohnern. Ein winziger menschlicher Stützpunkt am Rand des Mackenzie-Deltas, das größer als Baden-Württemberg ist.

An diesem Wochenende sind viele Bewohner von Tuk aus ihrer Isolation ausgebrochen und schwärmen in Inuvik zwischen Zelten und Ständen auf dem Eis hin und her. Das Muskrat-Jamboree ist ein wichtiges Ereignis. "Ich war vier Jahre alt, als es vor 52 Jahren das erste Mal stattfand", sagt Organisator Jerry Kazoun. "Ich erinnere mich, dass meine Mutter ein Iglu für uns baute." Er muss gegen heulende und bellende Schlittenhunde anbrüllen, die auf den Beginn des großen Rennens warten.

Die Musher, die Hundeführer, stehen hinter den Schlitten, bereit für Jerrys Startzeichen. Der Inuit Curtis Erhart ist eigens aus Alaska hierhergekommen. Er ist der Favorit. Neben den Hunden, die nun mit 35 Stundenkilometern über die Ebene jagen, hat sich auch eine Kolonne von Autos in Bewegung gesetzt. "Bring 'em home!", brüllt Jerry Kazoun, als die Teams auf der Zielgerade erscheinen. Curtis Erharts Schlitten läuft als erster ein. Bei den Frauen gewinnt Marie Anic Elie aus Inuvik und bewahrt die Ehre des Dorfes.

Essensdüfte dringen aus den Kochzelten. Zuschauer stehen vor einer Bühne, auf der sich Frauen mit spitzen Messern über tote Nagetiere beugen. "Wer kann die Bisamratten am schnellsten häuten?", ruft der Ansager. Und dann: "Wir brauchen eine Stoppuhr!" Es dauert eine Weile, bis jemand eine Uhr weiterreicht. Am Polarmeer herrscht "Delta Time", die gemächlichere Gangart des Mackenzie-Deltas.

Trotzdem lieben die Einheimischen Wettbewerbe. Etwa: wer am schnellsten Feuer machen und Tee aus Schnee zubereiten kann. Oder wer die Harpune am weitesten wirft. Wer der beste Schneeschuhläufer ist. Wer am schönsten singt.

"Eins, zwei, drei, los!" Mit geübten Griffen schneiden die Frauen durch das Rattenfell, angefeuert vom Publikum. Und schon hält eine ihre gehäutete Ratte hoch. Barbara Archie hat den Pelz in einer Minute und 16 Sekunden abgezogen. Die Siegerin kommt aus dem Weiler Aklavik, den man nach 112 Kilometern auf der Eisstraße erreicht.

Jetzt wollen es die Männer auch versuchen, aber sie machen Hackfleisch aus den Ratten, und das Fell hängt immer noch dran - eine 18 Dollar teure Ressource ist verpfuscht.

Oder doch nicht ganz: Im Kochzelt wird gebratene Bisamratte als Delikatesse angeboten. Robert Kolenc, ein Kanadier, der mit seinem Uralt-Motorrad von Vancouver nach Inuvik gefahren ist, will sie unbedingt probieren. Die Einheimischen sehen ihm neugierig zu. Das ist Futter für den Klatsch, den man jetzt mit anderen Arktisbewohnern austauscht, die man sonst selten trifft.

Viele Inuit haben sich herausgeputzt, manche Frauen tragen die traditionelle Parka-Jacke mit der auffälligen Pelzbordüre an der Kapuze, die man hier "Sunburst" nennt.

Kolenc, von Beruf Investmentbanker, betrachtet den Rattenbraten. "Etwas ungewöhnlich, diese gelben Zähne dran", sagt er. Die Umstehenden ermuntern ihn. "Bisamratte ist selten zu kriegen", sagt ein Einheimischer. "Sie ist schwierig zu fangen." Kolenc isst ein bisschen und knabbert am Rattenschwanz. "Knusprig", sagt er, die Leute freuen sich.

Düster ist die Stimmung dagegen bei Kurt Wainman, der gerade das Schneemobil-Rennen verloren hat. Bis kurz vor dem Ziel hat er in Führung gelegen, aber bei der letzten Kurve ist er mit dem Verfolger kollidiert und wurde vom Schneemobil geschleudert. Er ist nicht irgend jemand.

Die Firma des 38-jährigen Inuit, dessen Urgroßmutter eine Deutsche war, baut die Eisstraße. Wainmans Maschinen messen die Dicke des Eises, testen die Tragfähigkeit, machen die Oberfläche für Gummireifen griffig, retten Trucks nach Unfällen.

Kurt hört es gern, wenn man ihn den "König der Eisstraße" nennt. Mehr als 80 Lkw-Fahrer arbeiten für ihn auf der vergänglichsten Autobahn der Welt. Eisstraßen gibt es auch anderswo. Aber die Verbindung zwischen Inuvik und Tuktoyaktuk ist die längste nicht-private Eisstraße und auch die einzige, die teilweise über Salzwasser führt.

Kurts Leute wurden für die populäre Fernsehserie "Ice Road Truckers" gefilmt, die auch in Deutschland läuft: Episoden über harte Burschen, die ihr Leben riskieren, stets ins Eis brechen können. "Das passiert immer wieder", sagt Wainman, "aber wir holen alle raus."

An diesem Tag hat Kurt erfahren, dass einer der Touristen die Kollision gefilmt hat. Er trifft ihn in der Bar des modernen Hotels Mackenzie, wo die Regierungsbeamten aus Ottawa absteigen. Kurt lässt sich die Sequenz zeigen. Schließlich zuckt er die Schultern. Eine klare Verfehlung des Konkurrenten liegt nicht vor. "Wir lassen es wohl bleiben", sagt er. Morgen ist ja noch ein Schneemobil-Rennen angesagt, das Fest geht weiter, und die Eisstraße hält auch noch einige Wochen.

Informationen

Reisearrangement: Reisen an die Eisstraße, buchbar über das Schweizer Unternehmen Benno's Adventure Tours, finden wieder Ende März, Anfang April 2010 statt. Die Reise dauert 17 Tage und kostet 4700 Euro pro Person im DZ. Im Preis enthalten: Hin- und Rückflüge, zum Beispiel von Frankfurt nach Vancouver und weiter nach Whitehorse. Von dort mit dem Mietwagen zuerst auf dem Alaska Highway nach Dawson City, dann auf dem 741 Kilometer langen Dempster Highway nach Inuvik. Von dort auf der Eisstraße nach Tuktoyaktuk am Nordpolarmeer.

Weitere Auskünfte: www.bennosadventure.com, E-Mail: bennosadventure@bluewin.ch, Tel: 044/267 77 36

© SZ vom 10.12.2009/kaeb/dd - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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