Archäologisches Experiment in Frankreich:Burgbau ohne Baumarkt und Beton

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Das ist Europas langsamste und leiseste Baustelle: 45 Handwerker bauen im Burgund die letzte mittelalterliche Burg der Welt - unter Bedingungen wie vor 800 Jahren. Hier wird noch jeder Nagel selbst geschmiedet.

Werner Bloch

Warum wälzen sich jedes Jahr Hunderttausende von Deutschen zu sogenannten Mittelalterfesten? Warum tragen sie selbstgenähte Wäsche, nächtigen in klammen Zelten, reden sich mit "holde Maid" und "edler Ritter" an und schütten Met in sich hinein? Mehr als 5000 solcher Spektakel soll es bereits geben. Dort mutieren Bankangestellte und Familienväter zu Rittern und Landsknechten, stellen Schlachten nach oder prügeln mit Schwert und Lanze aufeinander ein.

Mit einem "Laufrad" werden in einem Wald bei Guédelon im französischen Burgund auf der mittelalterlichen Burgbaustelle Lasten nach oben transportiert. (Foto: dpa)

Die Flucht ins Mittelalter - womöglich bietet sie Gelegenheit, archaische Neigungen auszuleben, seine Identität zu wechseln oder alte Werte zu entdecken. "Das Mittelalter kennt den Begriff der Ehre - eine Vorstellung, die angesichts explodierender Börsen und des globalen Kapitalismus keine Rolle mehr spielt", vermutet Philippe Durand.

Durand ist Kunsthistoriker und Experte für mittelalterlichen Burgenbau an der Universität Lyon. Und er ist wissenschaftlicher Berater eines Projekts, das unsere Idee vom Mittelalter grundlegend verändern wird. Ein Projekt, das vielleicht den Höhepunkt der Mittelalterbegeisterung markiert und doch ganz anders ist als die lärmenden Gauklerfeste und Spektakel.

Denn nun geht es darum, selbst eine Burg zu bauen, im 21. Jahrhundert - und zwar so, wie man im Mittelalter gebaut hätte: Ohne Maschinen, ohne Strom, ohne Baumärkte. Eine Burg, gleichsam in Handarbeit, ein einzigartiges archäologisches Experiment. Geplante Bauzeit: 26 Jahre. Und die Hälfte davon ist gerade um.

Ein halbe Burg ist nun bereits zu sehen, in der französischen Provinz, rund zwei Autostunden südöstlich von Paris. Ein winziger Flecken in Burgund - nicht größer als ein Fußballplatz, ein ehemaliger Steinbruch in einem dichten Eichenwald - so reckt sich Guédelon, die letzte mittelalterliche Burg der Welt, jeden Tag etwa mehr in die Höhe, die Brücke und das ockerfarbene Wohnhaus des Burgherrn sind schon fast fertig. Es ist wohl eine der spannendsten Baustellen Europas.

Wahrscheinlich ist es auch die leiseste. Begrüßt werden die Besucher von einem freundlichen Holländer im grünen Leinenkittel, darunter trägt Hein Koenen ein weißes Wams, im Gürtel einen Holzstab mit der Maßeinheit der Baustelle: der Elle des Bauherrn. "Hör mal", sagt Koenen und legt die Finger an die Lippen, "kannst du das hören?" Mit Ausnahme einiger zwitschernder Vögel, des Rauschens in den Blättern ist hier Stille. "Stell dir vor, du bist auf einer Baustelle!", fährt Koenen mit Stolz fort.

Und tatsächlich: keine Kräne, keine Betonmischmaschinen. Nur Ruhe. "Das hier ist ein experimenteller archäologischer Bauplatz. Wir wollen herausfinden, wie in der Zeit gebaut wurde", erklärt er, und "wir verstehen vieles jetzt schon besser." Theorien gäbe es natürlich viele, aber der einzige Weg es wirklich herauszubekommen, sei, selbst zu bauen. Anfangs hat man uns für verrückt erklärt", sagt die charmante Marylène Martin in ihrem Büro neben dem Bauplatz.

Sie gibt gleichsam die Burgherrin, Chefin und Initiatorin des Projekts, als einzige hier ist sie schick und modern gekleidet. "Na ja, die Idee mag ja auch absurd erscheinen. Warum sollte man eine neue Burg bauen, wenn es doch so viele gibt, die man dringend restaurieren müsste?" Heute sind die Kritiker verstummt. "Die Besucher kommen, die Handwerker arbeiten und was wir gebaut haben, ist noch nicht in sich zusammen gefallen."

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Im Hintergrund hört man das fast musikalische Pochen eines Hammers auf Sandstein, ab und zu surren die Seile des Hamsterrades, wenn wieder ein Stein in die Höhe befördert wird. 45 Handwerker arbeiten auf der Baustelle. Sie ähneln ihren Vorgängern von vor 800 Jahren, wenn für sie auch die französischen Baugesetze gelten: Schuhe werden mit Stahlverstärkung getragen, in die großen Winden ist ein Stahlseil eingesponnen, damit nicht bei einem Seilriss alles zu Boden stürzen kann, mitunter muss ein Bauhelm auf den Kopf.

Doch nichts wird in Guédelon importiert oder gekauft. Jeder Nagel wird vom betriebseigenen Schmied gehämmert. Wald gibt es genug, Steinbrecher liefern Sand- oder Kalkstein von nebenan, Steinmetze bearbeiten jeden einzelnen Stein in mühevoller Maßarbeit. Seiler fertigen Seile aus Hanf. Dachdecker sind dabei, die sonst in Paris oder Bordeaux Dächer decken; aber auch frühere IT-Angestellte, die lieber täglich Steine oder Holz bearbeiten.

Inzwischen ist Guédelon die größte touristische Attraktion im nördlichen Burgund. Mehr als 300 000 Besucher waren es allein 2010, Tausende Busladungen. Vom Eintrittsgeld kann Guédelon sich längst selbst finanzieren.

Es gibt sogar Menschen, die als Freiwillige unbedingt hier schaffen wollen. Leute wie Dirk und Evelyn aus Dresden, beide um die fünfzig, beide mindestens ebenso mittelalterlich gewandet wie das Personal von Guédelon. "Auch in der Nähe von Dresden gibt es eine solche Burg, und wir wollen genau herausfinden, wie sie einmal aussah und was wir verändern können", sagen die beiden Sachsen und hämmern weiter.

Seit dreizehn Jahren wird nun schon gemauert, gekeilt und geschliffen. Allerdings wird Guédelon erst in ein paar Jahren richtig spektakulär aussehen, wenn die großen Rundtüme fertig sind - wie eine Hollywoodkulisse, das zeigt die Computersimulation genau. Schon jetzt dient Guédelon der Wissenschaft. "Es geht hier um ganz alte Techniken, die man verstehen muss", sagt der Baumeister Florian Renucci. "Nur so können wir sehen, wie die Baumeister des Mittelalters vorgingen, welche Strukturen bei ihnen fundamental waren und welche lediglich stützende Funktion hatten." Danach werde man auch den Mont St.-Michel oder die Mauern der berühmten Burganlage von Carcassonne besser verstehen als bisher.

Die Handwerker von Guédelon haben schon eine Menge herausgefunden. Zum Beispiel, wie man einer Burg einen Dachstuhl aufsetzt - und wie man Kreuzgewölbe baut, auf sechs oder mehr Rippen. "Wir sind die einzigen auf der ganzen Welt, die heute noch Kreuzgewölbe bauen. Architekten aus der ganzen Welt werden kommen, um sich das anzusehen", erzählt Renucci begeistert.

Er ist der unbestrittene Star der Baustelle, die Autorität - der Retter in der Not und zugleich der Mann mit dem Feldherrenblick. Wenn immer es ein Problem gibt, wird er gerufen. Und wenn er dann mit sanfter Stimme erklärt, was zu tun ist, oder bei der Plazierung eines Schlusssteins letzte Hand anlegt, dann herrscht in Guédelon ehrfürchtige Stille, dann schauen alle zu, als beobachte man einen Komponisten bei der Arbeit.

Renucci selbst ist überzeugt, dass Guédelon eine neue Art von Wissen erzeugt - ein kollektives Wissen, zu dem alle Beteiligten beitragen, vom Steinmetz bis zum Wissenschaftler. Jeder kommt mit seinen Ideen und seinen Vorschlägen. "Ich bin Bauleiter, aber hier muss man ständig Lösungen finden. Man kann nicht beim Architekten anrufen und nachfragen. Ich arbeite mehr wie ein Dirigent, wenn jemand eine gute Idee hat, muss ich sie aufnehmen, alles andere wäre töricht."

Einen Masterplan für Guédelon gibt es genau so wenig wie im Mittelalter. Anders als heute üblich, wuchs das Projekt mit seinen Problemen. Auch davon kann man im heutigen Management eine Menge lernen.

© SZ vom 23.08.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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