Adrenalin-Kick in Interlaken:Oh Gott, oh Gott - oh yeah!

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Rucksacktouristen aus aller Welt schätzen Interlaken im Berner Oberland als "Adrenalin-Hauptstadt" Europas, und der Ort schätzt Rucksacktouristen.

Jochen Temsch

Die Unterhose hängt aus den Shorts heraus, die Oakley-Brille steckt im Haar, die vergletscherte Jungfrau leuchtet in der Nachmittagssonne. "Check out this famous mountain", sagt der Guide am Steuer, "you know its name means Virgin?" Gelächter im Kleinbus. Darauf der Guide: "Die einzige Jungfrau der Welt, die Jungfrau bleibt, obwohl sie jeden Tag von Hunderten bestiegen wird."

Schweiz
:Interlaken: Spielplatz für Adrenalin-Junkies

Rucksacktouristen aus aller Welt schätzen Interlaken im Berner Oberland als "Adrenalin-Hauptstadt" Europas, und der Ort schätzt Rucksacktouristen.

Das gefällt den Jungs auf den hinteren Sitzen - einem schweigsamen Inder, der Hardcore-Musik auf dem iPod hört, sowie Paul Lumpkins und Ryan Simpson aus Houston, Texas. Beide sind 23 Jahre alt und haben kürzlich ihr Studium abgeschlossen.

Bevor sie anfangen zu arbeiten, wollen sie noch einmal richtig aufdrehen. Wie es sich für wohlhabende Mittelstandskids als Übergangsritus gehört, sind sie auf mehrwöchiger Europareise.

In Pamplona waren sie bei der Stierhatz. In München haben sie Bier aus Literkrügen getrunken. In der Schweiz tun sie ebenfalls das, was viele tun, die mit Rucksack und Daddys Kreditkarte unterwegs sind und höchstens zwei Übernachtungen lang Zeit haben: Sie kitzeln ihre Nerven in Interlaken, der "Europäischen Hauptstadt des Adrenalins", wie es in ihrem Travel-Handbuch heißt.

In Interlaken kann man alles machen, was bei rund 100 Euro Basispreis anfängt und auf -ing endet: Rafting, Canyoning, Sky Diving, Bungee Jumping und Paragliding. Weniger kosmopolitisch ausgedrückt, geht es grob umrissen um Schlauchbootfahren, Schluchtenwandern und Fallschirmspringen.

An Infoständen auf der Flaniermeile Höheweg bieten die Adventure-Firmen ihre Erlebnispakete feil. Man bezahlt, und keine Viertelstunde später sitzt man zum Beispiel in einem Kleinbus, der einen zum Gleitschirmfliegen bringt.

Doch den beiden texanischen Graduierten Paul und Ryan ist das viel zu lasch. Sie wollen, dass es ihnen anständig in den Magen fährt, dass ihre Beine kribbeln und dass sie einen "Flash" erleben, also das, was man auch von Drogen bekommt, in diesem Fall vom körpereigenen Endorphin.

Sie haben sich für den Canyon Jump entschieden, einen Sprung in die 90 Meter tiefe Schlucht des Gletscherflusses Schwarze Lütschine bei Grindelwald: 50 Meter freier Fall, dann Auspendeln an einem Bergseil, mit bis zu 120 Kilometern pro Stunde zwischen engen Felswänden hindurchkatapultieren - so schnell, dass es einem die Augäpfel in die Höhlen drückt.

Früher war das Berner Oberland für ruhigere Reize berühmt. Interlaken, malerisch auf dem Bödeli zwischen Thuner- und Brienzersee am Fuße der Viertausender Eiger, Mönch und Jungfrau gelegen, blickt auf 150 Jahre Fremdenverkehr zurück.

Die Hautevolee der Belle Epoque erging sich in gediegenen Häusern wie dem fünfsternigen Grand Hotel Victoria-Jungfrau bei der Sommerfrische mit Molkekur. Später wurde der betagte, jedes Jahr treu wiederkehrende Engländer zum archetypischen Ortsgast.

Nachmittagstees und Fahrten mit der berühmten Jungfrau-Bahn gelten bei der inzwischen vom Aussterben bedrohten Spezies immer noch als absoluter Höhepunkt der Aufregung.

Aber die neuen Gäste sind schon da: Jeden Tag schlappen Hunderte junge Leute aus aller Welt in Flipflops aus den Zügen, die zum Beispiel viermal täglich direkt aus Berlin und alle halbe Stunde aus Bern eintreffen. Interlaken - ein Bergidyll mit Großstadtanschluss.

Rucksacktouristen sind gern gesehen

Von außen ist der Bahnhof ein Dorfgebäude, von innen eine im babylonischen Sprachwirrwarr summende Mischung aus Delhi, New York und Seoul - und das bei nur 5500 Einwohnern.

Doch kaum ein Interlakener rümpft die Nase über die Barfüßigen. Eine Marktstudie hat gezeigt, dass ein Rucksacktourist genauso viel Geld bringt wie ein Gast in einem Drei-Sterne-Hotel - nur geben Backpacker ihr Budget nicht für ein Zimmer mit Bad und Halbpension aus, sondern für erhöhten Pulsschlag.

Zum Beispiel bei Erich Balmer, Herbergs- und Adventure-Firma-Besitzer und so etwas wie der heimliche Tourismusdirektor Interlakens. Der 64-Jährige gilt als Pionier in Sachen Backpackertum und als Begründer der Branche.

Schon in den siebziger Jahren trat Balmer als "Uncle Eric" in den Hörsälen der amerikanischen Colleges auf. Seine Devise: "Let's go to Europe". Aber nicht in eine der muffigen Jugendherbergen mit Aufseher, nach Geschlechtern getrennten Schlafräumen und Licht-aus-um- zehn sollte es gehen, sondern zu ihm, wo man heute noch vom Bett bis zur Waschmaschine und dem Drink an der Bar alles bekommt, was man als Low-Budget-Reisender braucht. "Junge Leute, die von ihren Eltern weg sind, haben das Recht, ganz loszulassen", sagt Balmer und beruft sich dabei auf den libertinären Geist der 68er-Generation.

Wie wenig er sich um konventionelle Steifheiten schert, demonstriert er gleich zu Beginn des Interviews. Braungebrannt, mit sportlich federndem Schritt, kurzgeschnittenem grauen Haar und - "nur wegen eines Notartermins" - im Anzug ohne Krawatte erscheint er zwischen den vornehm zurückhaltenden Kaffeegästen auf der säulenumstandenen Terrasse des Victoria-Jungfrau.

"Bah!", ruft er, nimmt das Glas mit französischem Mineralwasser seines Gesprächspartners und schüttet es in weitem Bogen ins Gras. "Trink lieber unser lokales Gletscherwasser, nicht dieses Zeug!", sagt er. Balmer duzt alle und möchte auch geduzt werden.

Soeben kommt er von einem Motorradtrip an die Nordsee zurück, erst mit 60 hat er das Harley-Fahren angefangen. Früher war er mehr in den Bergen unterwegs. Hier, die Narben an den Armen, die gebrochene Nase: Steinschläge. Und Bill Clinton ist er auch schon einmal begegnet. Der logierte im Victoria-Jungfrau, seine Tochter Chelsea feierte bei Balmer's.

Bei ihrem Gipfeltreffen überreichte der König der Backpacker dem ehemaligen US-Präsidenten ein Briefchen seiner hauseigenen "Sicherheits-Streichhölzer": darin ein Kondom mit der Aufschrift "Don't be silly, put a condom on your willy." Clinton, Vorname William, soll sehr gelacht haben.

Mit seiner direkten Art war und ist Balmer erfolgreich. Seine Werbetrips an die Unis dieser Welt hat er längst bis nach Japan, Südkorea und China ausgedehnt. Selbst Konkurrenten bestreiten nicht, dass Balmer die gesamte Schweiz für den Rucksacktourismus geöffnet hat.

Heute erwirtschaften allein die im Verein Interlaken Hostels & Adventure zusammengeschlossenen acht Herbergen und 16 Aktivitäten-Anbieter jährlich 100.000 Logiernächte und Instant-Abenteuer für 40.000 Teilnehmer.

Mehrbettzimmer mit Jungfraublick

Ab ungefähr 20 Euro bekommen Backpacker einen Schlafplatz im Mehrbettzimmer, Jungfraublick inklusive. "Wir haben die gleiche berühmte Aussicht wie das Grand Hotel", sagt zum Beispiel der Chef der frisch mit einem minimalistisch durchdesignten Gebäude erweiterten "Backpackers Villa Sonnenhof", David Bühler, "nur haben wir keine Straße davor." Aber noch wichtiger ist der Gratis-Zugang ins Internet, denn kaum ein Rucksacktourist reist ohne Laptop an.

In den Lounges der Herbergen sitzen die Gäste schweigsam beisammen, trinken Espresso und kommunizieren mit entfernten Freunden, jeder seinen Rechner mit dem leuchtenden Apfel-Logo auf dem Schoß, alle mit weißen Stöpseln im Ohr.

"Buschtrommeln" heißen die tragbaren Computer im Touristikerjargon. Wenn es den Travellern an einem Ort gefällt, rufen sie per Mail ihre unterwegs kennengelernten Kumpels herbei - das macht sich gleich bei den Buchungszahlen bemerkbar.

"Wer Spaß hat, kommt wieder", sagt Balmer. Da gibt ihm auch der Direktor des Grand Hotels Victoria-Jungfrau, Hans-Rudolf Rütti, recht: "Unter unseren Gästen sind immer wieder welche, die in ihrer Jugend mit dem Rucksack hier waren. Sie kommen mit ihren Familien zurück."

Wobei der Kontrast kaum größer sein könnte. Auf der Terrasse des Grand Hotels flüstert der Kellner eine Entschuldigung, wenn der Rasenmäher vom Nachbargrundstück zu laut herüberröhrt. Im Hostel kocht man selbst, eingehüllt in die exotischsten Dämpfe der Gemeinschaftsküche.

Das Frühstücksbuffet im Victoria-Jungfrau biegt sich unter Käse, Fisch und Champagnerkübeln, in der Herberge gibt es Brot, Butter und Marmelade.

Im Grand Hotel schlägt abends das Zimmermädchen die Bettdecke zurück, im Hostel holt man sich die Laken zum Selberbeziehen an der Rezeption ab.

Aber die Endorphindealer schlagen auch im Fünf-Sterne-Haus zu. Vor allem Paragliding im Tandem ist bei den betuchten Urlaubern gefragt. Man startet in Beatenberg und landet nach rund 20 Minuten bodenlos grandioser Aussicht auf der Höhematte, einer Wiese mitten im Ort, direkt vor dem Victoria-Jungfrau.

Die Veranstalter suchen dringend Pilotinnen, denn auch immer mehr arabische Touristinnen möchten fliegen, dürfen aber nicht mit einem Mann.

Erich Balmer hat eine einfache Erklärung für den Erfolg der Action-Angebote: "Die Internet-Generation braucht die Natur." Aber sie bekommt eine Natur 2.0 - eine virtuelle Version.

Die Backpacker buchen sich mal eben in eine Unternehmung ein, surfen, bei jedem Schritt angeleitet von einem Guide, durch Erregungszustände, die sie selbst kaum kontrollieren können, und ziehen wieder weiter. Gegen Aufpreis gibt es eine CD mit Fotos für Facebook. Gebleckte Zähne und gereckte Daumen dürfen auf keiner Aufnahme fehlen.

Ryan fotografiert Paul vor dem Sprung in den Canyon. "Wir haben gehört, dass das das Härteste ist, was man hier machen kann", sagt Ryan. Er meint, es wäre so ähnlich, als würde man auf der Autobahn bei voller Fahrt seinen Kopf aus dem Fenster halten und hoffen, dass man gegen keinen Brückenpfeiler prallt.

Ohne Zögern mit Anlauf in die Tiefe

Für den Fall, dass doch etwas passieren sollte, müssen die Jungs unterschreiben, dass sie den Veranstalter nicht haftbar machen. Die Erklärung ist stichhaltig, aber ironisch formuliert. Sie endet sinngemäß: "Außerdem bestätige ich, dass meine Mutter zum Glück nicht weiß, dass ich hier bin."

Paul hat noch eine Frage: "Darf ich auch mit Anlauf springen?". Er formt das Siegeszeichen für Ryans Kamera, zögert keine Sekunde und springt. Auf den anderen Fotos ist er nicht zu erkennen, so tief unten schwingt er in der Schlucht.

Das Rauschen des Wassers schluckt seine Schreie.

Der schnelle Spaß kann abrupt enden. Erst kürzlich hat ein Unfall wieder einmal daran erinnert, dass die Natur, als Abenteuerspielplatz genutzt, nicht ungefährlich ist.

Beim Rafting auf der Lütschine ist ein Schlauchboot gleich 100 Meter nach der Einwasserung von der Strömung gegen einen Felsen gedrückt worden und gekentert. Zwei junge Frauen kamen ums Leben, die anderen Insassen konnten sich ans Ufer retten.

Wenige Tage vorher erzählte ein Guide noch direkt an der Einwasserungsstelle, dass die Lütschine, verglichen mit den Flüssen, auf denen man in den USA oder in Neuseeland raften könne, völlig harmlos sei.

Der Unfall ereignete sich nun ausgerechnet eine Woche vor dem zehnten Jahrestag der schlimmsten Katastrophe der Schweizer Tourismusgeschichte. Am 27. Juli 1999 starben 21 junge Touristen beim Canyoning - einer Schluchterkundung mit Sprüngen und Abseilen von Felsen im Saxetbach. Der Fall machte weltweit Schlagzeilen. Ein heftiges Gewitter hatte eine Geröll- und Wasserwalze ausgelöst, die ihre Opfer kilometerweit bis in den Brienzersee schwemmte.

In der Nähe der Unglücksstelle steht eine Gedenkstätte. Angehörige und Freunde der Toten haben Fotos, Sprüche und Flipflops an eine Holzwand gepinnt.

In der Branche gilt "safety frist"

Damals war Fahrlässigkeit im Spiel. Die Adventure-Firma hatte Wetterwarnungen missachtet. Guides und ihre Chefs wurden verurteilt. Das hat die Branche aufgerüttelt. Seitdem heißt es "safety first".

Wetter und Wasserstände werden heute permanent beobachtet, ein Outdoor-Verband schult, prüft und zertifiziert die Guides. Aus Sportfreaks, die in den achtziger Jahren noch illegal von Brücken sprangen und dann vor der Polizei flüchteten, sind Unternehmer geworden. Im aktuellen Fall scheint alles nach den Sicherheitsregeln gelaufen zu sein.

Der Kommentator der Tageszeitung Berner Oberländer schreibt, Moralisten, die nun trotzdem wieder ein Ende der Aktivitäten forderten, "wollen nicht wahrhaben, dass das Adventure längst zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des Berner Oberlandes zählt".

Keine negativen Auswirkung auf die Buchungen

Das verbleibende Risiko ist, so makaber es klingen mag, nach Einschätzung von Insidern sogar eine Art Werbung für die Branche. Interlakens Tourismuszentrale jedenfalls meldet "in keiner Art und Weise negative Auswirkungen auf die Buchungen". Nach einem Tag Besinnungspause fuhren die Schlauchboote wieder wie zuvor.

Ryan und Paul kriegen sich auch schnell wieder ein. Nach dem Sprung geht es zurück in die Herberge. Paul sagt: "Als ich fiel, dachte ich: oh Gott, oh Gott, oh yeah, oh yeah!" Dann schaut er zum Fenster hinaus und gähnt. Morgen will er zum Canyoning.

Informationen

Anreise: Sieben ICE- und EC-Linien verbinden Deutschland und die Schweiz, Tickets ab 39 Euro im Tarif Europa-Spezial, www.deutschebahn.com, bzw. Swiss Travel System, www.swisstravelsystem.ch Unterkunft: Grand Hotel Victoria-Jungfrau, DZ ab 431 Euro, www.victoria-jungfrau-collection.ch, Backpackers Villa Sonnenhof, DZ ab 32 Euro pro Person, www.villa.ch Weitere Auskünfte: www.interlaken.ch, www.interlaken-adventure.com, www.swissbackpackers.ch, www.myswitzerland.com, Tel.: 008 00/10 02 00 30 (gebührenfrei)

© SZ vom 30.7.2009/dd - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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