Tourismus an Europas Grenzen:Menschen am Strand

Die einen im Bikini, die anderen in Todesangst: An den Küsten Europas treffen Touristen und Flüchtlinge aufeinander. Dabei entstehen Situationen, auf die kaum jemand vorbereitet ist.

Von Irene Helmes

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(Foto: Jose Palazon/Reuters)

Es ist einer der irritierendsten Schnappschüsse dieses Jahres: Flüchtlinge klettern über den Grenzzaun von Melilla, der spanischen Exklave in Nordafrika, während in Sichtweite Golfspieler in makellos weißen Outfits die Schläger schwingen. (Im Bild verdeckt von Büschen warten Grenzpolizisten). Er habe einen Moment voller Symbolkraft festhalten wollen, sagte José Palazón, Aktivist für die Rechte von Migranten, als sein Foto Ende Oktober 2014 um die Welt ging. Es folgte ein allgemeiner Aufschrei - der allerdings ziemlich spät kam. "Golf Melilla" ist in der spanischen Hafenstadt an Nordafrikas Küste seit Jahren in Betrieb. Bereits 2009 forderte eine NGO - unter anderem wegen der "unverschämten" Standortwahl - eine Untersuchung, warum die Anlage von der EU kofinanziert worden sei. Die Petition wurde von der Kommission in Brüssel als unbegründet zurückgewiesen, unter anderem mit Hinweis auf das Ziel, die "touristische Infrastruktur" vor Ort zu stärken. Diese Ansicht bekräftigte sie erneut im Dezember 2014. So ist die Symbolkraft von "Golf Melilla" mit seinen erwünschten und unerwünschten Besuchern tatsächlich enorm. Doch auch ohne die extremen Bedingungen von Melilla: Die Ränder Europas sind gesäumt von Orten, an denen Flüchtlinge mit Menschen zusammentreffen, die dort das Vergnügen suchen.

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(Foto: AFP)

Ist es ein Zeichen grenzenloser Arroganz und Gleichgültigkeit, mit der die Not der anderen gerade in Badeorten so auffällig ignoriert wird? Bilder etwa von Touristen, die sich - wie hier an einem Strand von Fuerteventura - scheinbar ungerührt neben gestrandeten Flüchtlingskähnen sonnen, erwecken den Eindruck. "Urlaub - das ist vor allem heile Welt", meinte dazu in diesem Sommer ein Kommentator des WDR: "Hier bezahlt der Nordeuropäer für die Entspannung bei friedlichem Wellenschlag (...), nicht für den Anblick von Toten." Und zitierte den Tourismusmanager der sizilianischen Hafenstadt Pozzallo, es wäre den meisten am liebsten, "wir würden die Immigranten erschlagen oder ertränken, damit sie in Ruhe hier Urlaub machen können".

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(Foto: Valentino Cilmi/dpa)

Doch dann gibt es Szenen wie diese: Touristen, die plötzlich zu Ersthelfern werden und zumindest kurzfristig sehr wohl deutlich Anteil nehmen. Im Sommer 2013 helfen Badegäste am Morghella-Strand des südostsizilianischen Pachino spontan der Küstenwache dabei, etwa 160 Flüchtlinge sicher an Land zu bringen. August ist Hochsaison in Süditalien - in doppelter Hinsicht. Die einen genießen die schier endlos scheinende Sonne am Strand, die anderen hoffen bei ruhiger See auf eine möglichst sichere Überfahrt, in der Angst, in der Hitze zu verdursten.

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(Foto: picture alliance / AP)

Diese Aufnahme zeigt, was sich am 30. Juli 2006 am Strand von La Tejita auf Teneriffa ereignete, als innerhalb eines Tages Menschen mit gleich mehreren Booten an der Küste der Kanareninsel landeten. Hunderte Touristen hätten spontan geholfen, so ein Polizist damals. Er sei besonders von der Hilfsbereitschaft der Jüngeren beeindruckt gewesen. Fast zeitgleich erschien in Deutschland das Buch "Fliehkraft". Darin berichten Tom Holert und Mark Terkessidis von einer "Gesellschaft in Bewegung - von Migranten und Touristen" und beschäftigen sich mit Fragen, die kaum jemand stellen wolle. Es gebe ein "verbreitetes Bedürfnis", kollektiv wie individuell, am liebsten erst gar nicht über derartige Begegnungen und Zusammenhänge nachzudenken, kritisierten die Autoren damals: "Die Räume, in denen sich Migranten bewegen, und die Räume, in denen Touristen reisen, sie sollen, sie dürfen sich nicht verschränken."

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(Foto: REUTERS)

Doch auch acht Jahre später kreuzen sich die Wege von Reisenden und Fliehenden weiter regelmäßig. Hier beobachtet ein Touristenpaar im November 2014 am Strand von Maspalomas, Gran Canaria, afrikanische Flüchtlinge. Eine wirkliche Debatte oder gar ein Konsens darüber, was solche Szenen für die Beteiligten eigentlich bedeuten, hat sich dagegen nicht entwickelt. Die Fragen sind denkbar heikel: Wie sollten sich Touristen in betroffenen Orten verhalten? Können sie sich überhaupt "richtig" verhalten? Ist Urlaubern ein Vorwurf zu machen, die Ziele meiden, an denen ihr Strandtag, für den sie vielleicht lange gespart haben, eine derartige Wendung nehmen könnte? Oder ist es zynisch, sich Orte zur Entspannung auszusuchen, an denen es für andere um Leben und Tod geht? Wenn ab und an einzelne Fotos oder Berichte durch Medien oder soziale Netzwerke gehen, zeigt sich in den Reaktionen jedenfalls eine Mischung aus Überraschung, Unbehagen und Überforderung.

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(Foto: AFP)

Dass die Krisen in Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten mehr Menschen als je zuvor über das Meer an die Küsten der EU treiben, bringt dabei nicht nur einzelne Reisende und Betrachter in Situationen, auf die sie nicht vorbereitet sind. Es verändert ganze Touristenorte und Landstriche. Wenn unerwartete Ankunftswellen nicht mehr zu bewältigen sind, werden auch Hotels zu Flüchtlingsunterkünften. Wie im sizilianischen Salemi in diesem Jahr.

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(Foto: AFP)

Dort ist 2014 unter anderem die "Villa Mokarta" (im Bild) zur vorübergehenden Behausung für Hunderte Menschen geworden, die im Rahmen des mittlerweile eingestellten italienischen Programms "Mare Nostrum" aus dem Meer gerettet wurden und nun darauf warten müssen, ob sie Asyl bekommen oder nicht. Was oft als großzügige Geste oder übermäßige Belastung von Hoteliers dargestellt wird, ist italienischen Medien zufolge längst etwas ganz anderes. "Wir haben gemerkt, dass es sehr wenige Reservierungen für die Saison gab", gestand der Eigentümer der einstigen Promi-Absteige "Mokarta" im Sommer im Magazin Panorama ein. Also habe man den Behörden signalisiert, dass das Hotel aufnahmebereit sei. Wenig später wurden die ersten Gäste, unter anderem aus Gambia und Senegal, einquartiert. Ähnlich überbrückt den Berichten nach auch ein renovierungsbedürftiges Hotel nahe Trapani die Zeit, bis es sich die nötigen Umbauten für klassische Touristen leisten kann.

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(Foto: AFP)

Denn die Unterbringung von Flüchtlingen ist, wie Panorama und auch La Repubblica betonen, in Sizilien längst ein Geschäft, und zwar ein einträgliches. Der Staat bezahlt zuverlässig für Betten, die sonst womöglich lange ungebucht bleiben würden. Kein neuer Mechanismus. Als Jugoslawien zerfiel, überstanden zahlreiche Hotels an der kroatischen Adria die Kriegsjahre unter anderem, weil die Regierung für die Unterbringung von bosnischen Flüchtlingen aufkam, wie die Autoren Holert und Terkessidis in "Fliehkraft" beschreiben. Erst als Ende der 1990er wieder ausländische Gäste Interesse zeigten, wurden diese ausquartiert. "Ich weiß, dass wir und die, die nun zum Urlaubmachen herkommen, nicht zusammenpassen", soll einer von ihnen damals gesagt haben. Im Bild: Flüchtlinge an der Rezeption der "Villa Mokarta".

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(Foto: AFP)

Dieser Aussage werden viele insgeheim oder offen zustimmen. Was also, wenn es nicht darum geht, ohnehin leerstehende Hotels zu füllen, sondern die Zufriedenheit tatsächlich anwesender Urlauber sicherzustellen? Dass Touristen, wie auf diesem Archivbild aus Teneriffa, dabei zusehen können, wie Flüchtlingsboote von der Küstenwache aufgegriffen werden, ist Hoteliers und Gastronomen in betroffenen Orten ein Dorn im Auge.

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(Foto: AFP)

Vergnügliche Ausflüge für die Gäste bekommen schließlich eine bittere Wendung, wenn die Route an schwimmenden Särgen vorbeiführt. Hier schippern Badeurlauber auf Lampedusa im August 2011 an einem Boot vorbei, auf dem 25 Leichen gefunden wurden. Die Afrikaner waren im Maschinenraum des völlig überfüllten Schiffs erstickt. Was passiert mit einer Insel, auf der Flüchtlinge stranden, während die Einwohner selbst keine Zukunft für sich sehen? Das Dilemma der Einheimischen, die auf Touristen angewiesen sind, beschäftigt inzwischen auch Filmemacher. Emanuele Crialese gewann mit "Terraferma" 2011 beim Festival von Venedig den Spezialpreis der Jury. Sein Hauptdarsteller Filippo Pucillo, selbst aus Lampedusa, sagte im SZ.de-Interview, "sie wollen ein besseres Leben, aber wir auch". Die Grundlage für ehrliches Mitgefühl, aber auch für eine Zwickmühle.

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(Foto: AFP)

Wie offen oder abweisend die Bewohner sich auch zeigen wollen, ein tourismusförderndes Image als Mittelmeeridylle für Lampedusa liegt längst nicht mehr in ihrer Hand. Spätestens seit dem 3. Oktober 2013, als Hunderte Flüchtlinge auf einmal vor der Küste ertranken, ist die eigentlich so malerische Insel (hier der Hafen) international als Schauplatz einer schleichenden Katastrophe bekannt. Anderswo wollen lokale Politiker den Anfängen wehren und das Image ihrer Heimat erst gar nicht mit dem Thema verbunden sehen. Zwei Beispiele: Ende September beklagte sich ein britischer Parlamentsabgeordneter öffentlich, weil das Innenministerium 155 Flüchtlinge vorübergehend in zwei Strandhotels seiner Heimatstadt Bournemouth untergebracht hatte. Es handle sich dabei um "den falschen Ort", so der Tory-Politiker laut BBC. Die Behörden von Antalya bemühten sich Anfang November um Sonderregelungen, um den Zustrom von Menschen aus dem implodierenden Nachbarland Syrien in die türkische Bademetropole einzuschränken.

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(Foto: REUTERS)

Ein paar der vielen Tausend Flüchtlinge, die jedes Jahr via Melilla den Weg in die EU suchen, beobachten im Dezember 2013 ein Flugzeug - ohne die türenöffnenden Pässe und das nötige Geld bleibt es für sie unerreichbar. Airports, Häfen und Bahnhöfe - je nach Perspektive bekommen sie besonders am Mittelmeer eine völlig unterschiedliche Bedeutung. Für Reisende aus dem Norden sind sie unproblematische, schlimmstenfalls zeitraubende Zwischenstopps, für andere werden sie zu hochkomplizierten Hindernissen. Ob wochen- und monatelange Anstrengungen scheitern oder die Reise in ein besseres Leben weitergehen kann, entscheidet sich oft an solchen Knotenpunkten.

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(Foto: Bloomberg)

Eine Wanderung auf den griechischen Inseln - eigentlich verlockend, auf diesem Bild dagegen nur auf den ersten Blick idyllisch. Junge Afghanen, die es auf dem Seeweg von der Türkei auf EU-Territorium geschafft haben, gehen im Dezember 2012 auf Lesbos zu Fuß weiter. Auch vor dem Postkartenhintergrund der griechischen Küsten versuchen zahllose Migranten ihr Glück. Griechenland, noch heftiger als Italien und Spanien selbst krisengeschüttelt, deckt oft lieber einen Mantel des Schweigens über die Neuankömmlinge, jedoch nicht immer. Auf der Insel Samos, die weniger als zwei Kilometer von der Türkei entfernt liegt, wurde der heiklen Lage in diesem Sommer eine Ausstellung namens "Borderline" gewidmet. Ist die Überfahrt nach Samos oder Lesbos geschafft, beginnt für manche dann gerade wegen des örtlichen Tourismus ein neues Leben. "MigrantInnen mit und ohne Papiere werden als billige Arbeitskräfte auf dem Bau oder für Dienstleistungstätigkeiten im Tourismus nachgefragt", stellte die Kulturwissenschaftlerin Ramona Lenz in ihrem Aufsatz "Pauschal, individual, illegal - Aufenthalte am Mittelmeer" 2007 für die ganze Region fest. Am Beispiel Kreta erläuterte sie, wie sich Flüchtlinge möglichst unauffällig in die örtlichen Jobs in Gastronomie und Hotellerie eingliedern.

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(Foto: AFP)

Während am Mittelmeer die meisten Überlegungen eher darum kreisen, wie Begegnungen zwischen Touristen und Flüchtlingen vermieden oder wenigstens kaschiert werden können, gibt es in Thailand noch eine ganz andere, zweifelhafte Variante. Seit Jahren tobt nicht nur in Backpacker-Blogs ein Streit um Dörfer der Kayan Lahwi. Angehörige der verfolgten Minderheit aus Myanmar haben ihre Heimat verlassen müssen - und wurden in Thailand zur Touristenattraktion. Tourveranstalter preisen Besuche zu den "faszinierenden" Kayan Lahwi in einem Atemzug mit bekannten Tempeln und Naturschätzen an. Andere Reiseunternehmen weigern sich mitzuziehen, da die Kayan Lahwi teils gegen ihren Willen zur Schau gestellt würden. 2008 sprach das UN-Flüchtlingshilfswerk von einem "Menschenzoo" und forderte Touristen auf, nicht an der Ausbeutung mitzuwirken. Die Touren zu den "Giraffenhalsfrauen" finden bis heute statt, lesenswerte Gedanken zu dem Dilemma von interessierten Thailandreisenden finden sich hier.

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(Foto: dpa)

Während die Kayan Lahwi Kritikern zufolge teils gegen ihren Willen geradezu ausgestellt werden, werben Angehörige der Saharaui aktiv darum, sich selbst zum Reiseziel zu machen. In der Westsahara, einem seit langem umkämpften Landstrich an der nordafrikanischen Atlantikküste, versuchen Angehörige des Volksstammes mit Unterstützung ihrer Exilregierung, Reisende in ihre Camps zu holen. So wollen sie die eigene Situation publik machen, Verständnis für ihren Widerstand gegen die marokkanische Regierung schaffen und etwas Geld verdienen. Flüchtlingscamps werden so für Touristen zu Sehenswürdigkeiten.

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(Foto: AFP)

Manchmal schließlich wird die verkehrte Welt noch verkehrter. Dann haben ein paar Kinder Glück und dürfen Urlaub machen von ihrem Leben in einem Flüchtlingslager, in dem sie wiederum vielleicht selbst kurz zuvor neugierige Besucher empfangen haben. Jeden Sommer organisiert eine NGO für Kinder aus der Westsahara Gastfamilien auf den Kanarischen Inseln oder den Balearen, bei denen sie sich einige Wochen erholen dürfen. Danach geht es zurück in den harten Camp-Alltag. Da dieser danach womöglich sogar noch schwerer zu ertragen ist, verzichten andere NGOs bewusst auf solche Aktionen und konzentrieren sich auf die Hilfe vor Ort. Das Bild zeigt eine Gruppe von Saharaui-Kindern am Ende ihrer Ferien kurz vor dem Rückflug von Fuerteventura im September 2005.

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(Foto: Getty Images)

Nicht auszuschließen, dass manche der Kinder später versuchen, zurückzukehren, auch wenn sie nicht mehr eingeladen werden, notfalls in einem überladenen Kahn. Sofern sie dabei nicht ertrinken oder verdursten, stranden sie vielleicht auf einer europäischen Insel. Und werden dort von Sonnencreme-glänzenden Badenden aus dem Wasser gefischt. Sie wären alle: Menschen am Strand. Im Bild: Flüchtlinge auf Lampedusa. Alle Stücke des Schwerpunkts "360° - Europas Flüchtlingsdrama" finden SIe hier.

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