Wenig Vertrauen in Gesundheitspolitik:"Vernichtendes Urteil"

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Miserable Stimmung: Die Deutschen haben wenig Zutrauen in die Gesundheitspolitik - auch viele Ärzte blicken offenbar mit "pessimistischer Frustration" in die Zukunft.

Johann Osel

Wenn es um das Gesundheitssystem von morgen geht, blickt eine Mehrheit der Bürger und Ärzte in Deutschland pessimistisch in die Zukunft.

Schlechte Stimmung: Der Anteil der Ärzte, die eine schlechtere Versorgung wegen des steigenden Kostendrucks befürchten, stieg binnen eines Jahres von 69 auf 72 Prozent (Foto: Foto: dpa)

Knapp zwei Drittel der Bevölkerung und 81 Prozent der Mediziner sind der Meinung, dass grundlegende Änderungen im System nötig sind. Dass es diese tatsächlich geben werde, erwartet jedoch kaum jemand: Nur etwa ein Viertel der Patienten und noch weniger Ärzte rechnen mit Verbesserungen nach der Wahl.

Die Ergebnisse einer repräsentativen Allensbach-Umfrage im Auftrag des Vermögensberaters MLP und der Bundesärztekammer, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde, dokumentieren insgesamt eine miserable Stimmung.

41 Prozent der Befragten machen sich Sorgen, dass sie im Krankheitsfall eine notwendige Behandlung aus Kostengründen nicht erhalten würden. Mit zunehmendem Alter wächst diese Befürchtung rapide: In der Gruppe der Senioren ab 60 Jahren ist fast die Hälfte dieser Ansicht. Die Mehrheit der Patienten stellt sich in den kommenden zehn Jahren auf steigende Kassenbeiträge und höhere Zuzahlungen bei Arzneien ein.

"Zwei-Klassen-Medizin"

72 Prozent sagen, es werde "immer mehr zu einer Zwei-Klassen-Medizin" kommen. Allerdings befürchten lediglich 13 Prozent der privat Versicherten, dass ihnen Behandlungen verweigert würden, während 58 Prozent der gesetzlich Versicherten glauben, sie wären privat besser abgesichert.

Der Vize-Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, sagte, die Befragung sei "ein vernichtendes Urteil für die Gesundheitspolitik". Sie verdeutliche, dass die Patienten der Politik keine Verbesserungen mehr zutrauten. Derzeit beurteilten die Bürger die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems zwar noch zu 64 Prozent als mindestens "gut", die Angst vor drastischen Verschlechterungen herrsche aber vor.

Kaum anders ist laut Umfrage die Stimmung bei den Ärzten: Der Anteil der Mediziner, die eine schlechtere Versorgung wegen des steigenden Kostendrucks befürchten, stieg binnen eines Jahres von 69 auf 72 Prozent. Viele Ärzte sehen ihre Therapiefreiheit bedroht. Mehr als die Hälfte würde angehenden Kollegen von der Niederlassung in einer Praxis abraten - trotz Ärztemangel vor allem in ländlichen Regionen; und trotz der lange umstrittenen Honorarreform, die den niedergelassenen Ärzten im ersten Quartal durchschnittlich 7,8 Prozent mehr Geld gebracht hat.

"Wenn wir feststellen, dass der überwiegende Teil der jungen Ärzte heute in Deutschland keine Perspektive mehr sieht, sind das absolute Alarmzeichen", sagte Montgomery. Es sei schlimm, dass sein Berufstand mit "pessimistischer Frustration" in die Zukunft blicke.

"Wahlkampf in den Wartezimmern"

Obwohl Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) dies mit Nachdruck ablehne, forderte er erneut eine sogenannte Priorisierung - das bedeutet, die Politik soll festlegen, welche Behandlungen den Kassenpatienten noch zugebilligt werden und welche nicht. "Das ist besser, als verdeckt Leistungen zu rationieren. Wir müssen mit den knappen Ressourcen in unseren Sozialsystemen vernünftig und nicht zufällig umgehen."

Einer Forderung aus dem SPD-Wahlprogramm stimmen die Bürger hingegen mehrheitlich zu und erhoffen sich dadurch eine Aufwertung des Kassensystems: der Bürgerversicherung, einer gesetzlichen Pflichtversicherung für alle Berufstätigen. Gesundheitsministerin Schmidt wertete dieses Ergebnis in einer Stellungnahme umgehend als Rückhalt: "Mein Vorschlag bleibt die Bürgerversicherung, bei der Menschen für Menschen einstehen." Zu den vielen Vorbehalten, die durch die Studie indirekt gegen die Gesundheitsreform erhoben werden, sagte sie nichts.

Die Parteien der großen Koalition werden wohl alles tun, um Gesundheitspolitik als Wahlkampfthema zu verhindern, glaubt Montgomery. Eine große Mobiliserungsdebatte - "einen Wahlkampf in den Wartezimmern" - wolle die Bundesärztekammer aber nicht anstoßen, beteuerte er. Wohlgemerkt tat er dies, nachdem er den Pessimismus deutscher Patienten ausführlichst erörtert hatte.

© SZ vom 6.8.2009/plin - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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