Wahl in Hamburg: Olaf Scholz:"Bei ihm ist alles Taktik"

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Die Wahl gilt schon fast als gewonnen: Viele sehen den Hamburger Olaf Scholz als zukünftigen Bürgermeister der Hansestadt. Der SPD-Mann überlässt dennoch nichts dem Zufall.

Jens Schneider

Die Stühle sind klobig und schwer. Der ältere Herr hat einen leicht roten Kopf, und das liegt noch nicht daran, dass die Luft dünner zu werden beginnt in diesem Saal in Lokstedt im Westen Hamburgs. Doch es hilft nichts: Er darf die Stühle gar nicht erst abstellen, die er aus dem Foyer geholt hat, damit er und seine Begleitung nicht stehen müssen. "Das geht gar nicht", tritt ihm die junge Frau von der SPD entgegen. Sie spricht von Fluchtwegen.

Auf diese Art überfordert waren Sozialdemokraten in Hamburg lange nicht mehr. Es liegt ja nicht weit zurück, da sind sie beschimpft worden, wegen HartzIV, wegen der Rente mit 67, wegen Afghanistan, eigentlich wegen fast allem. Die Leute kamen nicht zu ihnen, sie liefen in der Fußgängerzone vor ihnen davon. Dazu stritten sich Hamburgs Sozialdemokraten so eklig, dass einige Genossen bei der Bundestagswahl dazu aufriefen, gleich die Konkurrenz zu wählen.

Nun diese Durchsage: "Wir sind etwas überwältigt." Leider ließe sich kein Platz mehr schaffen im Saal. Der Ton werde ins Foyer übertragen, da könnten die Leute sitzen, "wenn es Ihnen genügt, Herrn Scholz zu hören und Sie auf das optische Erlebnis verzichten können."

Dieses optische Erlebnis - das jeden Abend Hunderte in einem anderen Quartier anzieht - besteht zunächst einmal darin, dass es nicht als Erlebnis inszeniert ist. Es gibt keine Fanfare und keinen Conférencier. Alles ist leise, zurückgenommen, sachlich. Olaf Scholz kommt mit leichten Schritten die Treppe hinunter, nimmt das Mikrophon, lächelt und sagt: "Guten Abend". Dann beginnt der SPD-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters über Hamburg zu reden. Einige schauen ungläubig, weil er über die klammen Finanzen des Stadtstaats, die Wohnungsknappheit und den Hafen so unangestrengt und leicht, vor allem aber frei spricht. Ohne Manuskript, ohne Spickzettel. Ohne Stocken, ohne zu stolpern.

Es ist seine Art, beiläufig zu zeigen, dass dies seine Heimatstadt ist, deren Sorgen er auswendig kennt. Dafür hat sich der penible Jurist, der alles genau plant, seit Monaten bis ins letzte Detail eingearbeitet. Angefangen hatte er lange bevor die Grünen im Herbst die Koalition mit der CDU brachen und die Neuwahlen am 20.Februar erzwangen. Scholz hatte auf den Koalitionsbruch hingearbeitet, die Grünen getriezt und gelockt. Der in unappetitliche Grabenkämpfe verstrickten SPD verordnete er Sacharbeit, als er die desolate Partei vor knapp zwei Jahren übernahm.

"Ich habe nach einem Zettel gesucht oder nach einem Bildschirm, wo er das alles hernimmt", sagt eine Frau mit kurzen roten Haaren hinterher. Sie hat auf der Treppe gesessen und ist sich mit ihrer Freundin einig, dass der freie Vortrag außergewöhnlich war. Als wäre einer aus der Bundesliga in die Regionalliga zurückgekehrt. Gekommen ist sie, um zu gucken, wie "der Scholz" sich entwickelt hat, der wohl bald ihre Stadt regieren wird. "Man kennt ihn ja von früher", sagt sie, und da schwingt Skepsis mit.

Früher, das ist die Zeit vor gut zehn Jahren, als die Jahrzehnte an der Macht für die Hamburger SPD zu Ende gingen. In der Stadt herrschte eine beklemmende Stimmung, weil der rot-grüne Senat die Drogenszene nicht in den Griff bekam. Der Rechtspopulist Ronald Schill, später Senator, dann Skandalfigur, wurde von lokalen Medien gefördert. In einem verzweifelten Rettungsversuch sprang Scholz als Innensenator ein. Mit den Worten "Ich bin liberal, aber nicht doof" verordnete er einen radikalen Kurswechsel zu einem harten innenpolitischen Kurs.

Ohne Manuskript und ohne Stocken: Wenn Scholz dieser Tage in Hamburg Reden hält, dann merkt man, dass er weiß, wovon er spricht. (Foto: dpa)

Der eigentlich schüchterne Mann ließ sich mit drolliger Polizeimütze auf einem grün-weißen Motorrad knipsen und tat dynamisch. Es sah albern aus, wie eine Playmobilfigur. Die SPD kriegte die Kurve beim Wähler dennoch nicht, der Christdemokrat Ole von Beust übernahm für fast ein Jahrzehnt. Aber der Hardliner-Auftritt von Scholz blieb SPD-Linken und Grünen im Gedächtnis, die ihn seither als extrem biegsamen Machtpolitiker sehen. "Bei ihm", sagt eine führende Grüne, "ist alles Taktik."

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass der 52-Jährige sich für die SPD in einer fremden Rolle versuchte. In der Hochphase der Proteste gegen die Hartz-IV-Reformen wollte er als Gerhard Schröders Generalsekretär mit kernigen Sprüchen dagegenhalten und wurde als "Scholzomat" verspottet, weil er sich so sehr auf Floskeln verließ. Danach muss er beschlossen haben, nie wieder einen ganz anderen geben zu wollen. Schon als Bundesarbeitsminister wirkte der Arbeitsrechtler heimisch auf ureigenem Terrain.

Dieser Wahlkampf nun ist sein Heimspiel, nicht nur, weil er - anders als der aus Heidelberg stammende CDU-Bürgermeister Christoph Ahlhaus - aus Altona kommt. Hier scheinen Auftreten und Person absolut zusammenzupassen. Was nicht passen könnte, wie sein feiner, aber zuweilen hochnäsiger Humor, das unterdrückt der Kontrollfreak so gut es geht. Er sei bei sich, glauben selbst konservative Beobachter. Da gehört die enorme Selbstkontrolle wohl dazu.

Geschickt erweckt er den Eindruck, dass gekittet ist, was unwiederbringlich zerbrochen zu sein schien: die Einheit von SPD und Hamburg. Im Hamburg seiner Jugend und der Studienjahre, so beschwört er es in seinen Reden, da gab es Arme und Reiche, aber keine Spaltung zwischen armen und reichen Vierteln. Es war "eine Stadt, die zusammenhält." In diesem Hamburg hatte die SPD die CDU-Werte- ob nun in der Wirtschaft oder der Innenpolitik - immer schon mit abgedeckt, was dazu führte, dass die CDU hier jahrzehntelang keine Chance hatte. Dahin will er zurück: Er hat den bisherigen Präses der Hamburger Handelskammer Frank Horch als möglichen Wirtschaftssenator gewonnen; den hätte die CDU nur zu gern gehabt. In seinen Worten erscheint die CDU als jene Funktionärspartei, als die die verfilzte SPD immer galt. "Schwarz-Grün" sei, spottet Scholz, "wie eine Wohngemeinschaft" gewesen, die zu viel darauf achtete, dass sich alle untereinander gut verstanden, aber zu wenig an die Stadt dachte.

Scholz sagt, von ihm gebe es "nur ein wirklich teures Wahlversprechen": Die Kitas sollen für die ersten fünf Stunden kostenlos angeboten werden. Sonst verspricht er eine solide Finanzpolitik und will Personal einsparen, 250 Stellen im Jahr. Der letzte Senat habe einen gewaltigen Überbau entstehen lassen: "Mein Horrorszenario ist, irgendwann haben wir sechs Senatsdirektoren, die sich mit Grün beschäftigen, aber keine Gärtner mehr." Alle anderen Parteien rechnen ihm vor, dass seine Sparliste nicht funktionieren kann. Ein CDU-Senator spricht von "Verarsche", der Bürgermeister von Wahlbetrug. Die Liste ist kleinteilig und schwer nachzuvollziehen.

Jeder Auftritt ist genau kalkuliert, selbst wenn es ein Altkanzler ist, der gern groß ausholt. Höchstens neunzig Minuten hat Scholz für das Gastspiel von Gerhard Schröder in einem Hotel am Dammtor an einem Mittwoch zur Mittagszeit eingeplant. Es geht darum, dass Schröder da ist, und um die Bilder. Scholz nutzt den Augenblick, um für sich einen weiten Horizont zu reklamieren. Er werde gewiss mehr sein als ein Oberbürgermeister und sich in Debatten wie die über die Euro-Krise einschalten, bei denen es um die Zukunft des Landes gehe. Ansonsten überlässt er Schröder das Feld, damit der über das Weltgeschehen philosophieren kann.

Scholz sieht seine Aufgabe am Ende darin, die Gäste nicht lange von der Arbeit abzuhalten. "Sorgen Sie dafür, dass das Sozialprodukt in der Stadt ordentlich wächst", verabschiedet er sie. "Wir brauchen Ihre Einnahmen!" Da ist kein Konjunktiv mehr dabei, das klingt nach absoluter Gewissheit. Es mag überheblich sein, aber etwas anderes würde ihm auch keiner mehr glauben. Angesichts seines Vorsprungs sind seine Abende zu Bürgersprechstunden mit dem Bürgermeister geworden, der nur noch nicht im Amt ist. Die meisten fragen nicht, was er im Fall einer Wahl tun würde. Sie wollen genau wissen, wie er sparen wird.

Wenn es unberechenbar wird, gerät seine Ruhe schon mal ins Wanken. "Ich sag es gern auch zehnmal", zischt er eine Frau an, die seine Sparpläne an diesem Abend in Lokstedt noch immer zu wenig konkret findet. Dann atmet Scholz tief durch und zwingt sich mühsam zur Geduld, für einen Moment wird sein Lächeln zur Grimasse. Diese Dame legt danach ihre Hände vor dem Gesicht zusammen und sagt leise: "Wunderbar."

Angesichts von zuletzt 46 Prozent in den Umfragen für seine SPD wird ständig nach einer absoluten Mehrheit gefragt. Scholz gibt sich bescheiden: Dass die SPD danach gefragt werde, sei lange nicht mehr passiert. Aber: "Realistisch ist das nicht." Als Partner nennt er ausschließlich die Grünen, über die er aber nicht viel weniger spottet als über die CDU, die sich schon als kleiner Partner angedient hat. Eine klare Absage geht an die FDP. In Hamburg sei das Liberale sowieso bei der SPD zu Hause.

Leicht fällt es ihm, als Gegenbild zum jovialen Bürgermeister Ahlhaus aufzutreten, dessen Frau so gern als "Fila" auftritt, als First Lady. Über seine Frau Britta Ernst hat Scholz zu Beginn des Wahlkampfs einen Satz gesagt. Er erzählte von seinem Leben in Hamburg und bekannte: "Ich habe mich hier unsterblich in meine Frau verliebt." Wer nicht um das Verhältnis der beiden wusste, mochte das kitschig finden. "Der Satz war absolut wahr. Das ist eine ganz besondere Liebe", sagt ein vertrauter Sozialdemokrat über die langen gemeinsamen Jahre von Olaf Scholz und Britta Ernst, der Parlamentarischen Geschäftsführerin der SPD in der Hamburger Bürgerschaft. Es sei "auch eine intellektuelle Liebe". Aber niemals würden die beiden eine Home-Story machen, nie würde Scholz seine Frau "First Lady" nennen. Er hat versprochen, dass in seinem Kabinett die Hälfte der Posten an Frauen gehen sollen. Britta Ernst wäre für einige Posten erste Wahl und muss wohl dennoch draußen bleiben. Scholz sagt dazu nur, dass er den "ordre public" beachten werde.

Er pflegt die Kunst, sich zurückzunehmen. Beinahe schüchtern sitzt der Kandidat an diesem Sonntagvormittag im Hamburger Ernst Deutsch Theater auf dem Sofa neben Günter Grass. Der Groß-Dichter ist gekommen, um wieder einmal SPD-Wahlkampf zu machen. Erst liest er, dann plaudern sie. Genauer gesagt: Grass plaudert. Scholz stellt möglichst kluge Fragen. Er sagt, es sei schon beeindruckend, neben jemandem zu sitzen, den er im Schulunterricht durch seine Bücher kennenlernte. Scholz gibt sich fast wie ein Schüler und lässt Grass glänzen. Den Zuschauern scheint das zu gefallen. Nach einer Weile steht der Literaturnobelpreisträger auf, um seine Flasche Rotwein vom Rednerpodest zu holen.

"Auch 'nen Schluck?" fragt er. "Jo", antwortet Scholz leise. Der Literat leert kraftvoll das nächste Glas, Scholz nippt später ein wenig. Alles unter Kontrolle.

© SZ vom 08.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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