Wahlen in der Ukraine:Ein Land an der Schwelle

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Arsenij Jazenjuk ist bislang Übergangspremier der Ukraine. (Foto: AFP)

Am Sonntag wählen die Ukrainer ein neues Parlament. Zwar dominieren ein halbes Jahr nach dem Maidan Verschwörungstheorien und Skepsis in der Bevölkerung. Doch der Umbruch hat auch dafür gesorgt, dass neue Ideen, Ansprüche und Werte verhandelt werden.

Kommentar von Cathrin Kahlweit

Der vergangene Winter in Kiew fühlte sich wie ein Sommer an: heiß und hell, überall Musik und Lagerfeuer, die Straßen waren auch nachts voll und laut. Jetzt, da Krieg herrscht im Osten und sich das Leben weitgehend normalisiert hat, steckt die aufziehende Kälte schon vor dem Wintereinbruch in den Köpfen wie eine latente Bedrohung, real wie emotional.

Zehntausende im Donbass sind ohne Heizung und Strom, ohne Wohnung und Hoffnung; wie sie überleben sollen und wann sie sich endgültig von der Ukraine abwenden, ist eine der existenziellen Fragen, auf die niemand in der Hauptstadt eine Antwort hat. Ebenso wenig wie auf die weit verbreitete Furcht, dass Russland einen langfristigen Plan in der Ukraine verfolgt und weiter zündeln wird; und dass die Separatistenrepubliken nicht das letzte Wort im Kampf um Territorien und staatliche Einheit gewesen sein werden.

Wie die abstürzende Wirtschaft aufbauen, wenn Investoren ausbleiben und die Abhängigkeit vom Westen wächst? Wie Korruption bekämpfen, wenn in Politik und Verwaltung außer ein paar neuen Leuten bisher noch die alten Betonköpfe sitzen? War alles umsonst?

Diese Wahl hätte eine Zäsur werden sollen

Diskussionen wie diese werden vor der Parlamentswahl an diesem Sonntag überall in der Ukraine geführt. Eigentlich hatte diese Wahl eine Zäsur sein sollen in einem grundlegenden Erneuerungsprozess, der schon während der orangenen Revolution vor zehn Jahren ein erstes Mal begonnen wurde, versandete, und nach der Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit der EU durch Viktor Janukowitsch ein zweites Mal auflebte; heftiger diesmal, blutiger auch.

Was dann folgte, hatten wohl weder die Clique um den Ex-Präsidenten noch die Geheimdienste in Moskau oder Washington so erwartet: eine monatelange Schlacht um Wahrheit und Rechtsstaatlichkeit, ausgefochten von einer gut ausgebildeten und hungrigen, aber unterschätzten und abgedrängten Mittelschicht. Politiker, die mit einer Westöffnung liebäugelten, aber diese unter dem alten Regime nicht durchsetzen konnten, nutzen nur die Gunst der Stunde.

Neue Ideen, Werte, Ansprüche werden verhandelt

Janukowitsch wollte aussitzen, was sich nicht aussitzen ließ. Denn hier ging es nicht nur um Privilegien für Kleptokraten oder um ein Handelsabkommen mit dem Westen. Es ging um das Selbstverständnis einer jungen Bürgergesellschaft, die schon viel weiter war als ihre postsowjetisch geprägte Führung.

Ein halbes Jahr ist seit der brutalen Eskalation im Februar vergangen, als hundert Menschen umkamen und die Empörung letzte Zweifler mitriss. Mittlerweile dominieren Verschwörungstheorien und Skepsis die Interpretation der Ereignisse: Die Oligarchen hätten den Aufstand angezettelt, weil ihnen das Stück vom Kuchen zu groß wurde, das Janukowitsch wollte. Die Russen hätten den Maidan angeheizt, um das Land ins Chaos zu stürzen. EU und Amerikaner hätten die Finger im Spiel gehabt, um die Ukraine als Markt zu öffnen und Moskau zu schaden. Auch solche Diskussionen werden in der aufgeheizten Atmosphäre des Wahlkampfs überall in der Ukraine geführt.

Aber kaum jemand zweifelt noch daran, dass der Maidan eine Tür geöffnet hat, dass neue Ideen, neue Ansprüche, neue Werte verhandelt werden. Insofern ist diese Wahl eben doch ein Einschnitt.

© SZ vom 25.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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