Verfassungsrichter Papier:Gegen die Totalkontrolle

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Das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung war wohl eines der wichtigsten des scheidenden Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Hans-Jürgen Papier zieht sein Fazit.

W. Janisch und H. Kerscher

Ende einer Dienstzeit: Zwölf Jahre lang gehörte Hans-Jürgen Papier dem Bundesverfassungsgericht an, seit 2002 war er dessen Präsident. Der Staatsrechtler Papier, der schon im April nach München an die Ludwig-Maximilians-Universität zurückkehren wird, hat mit dem furiosen Urteil zur Vorratsdatenspeicherung einen Schlusspunkt hinter seine Amtszeit gesetzt. Ein Richterspruch mit Konsequenzen - inzwischen will die EU-Kommission die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung prüfen.

SZ: Herr Präsident Papier, am Dienstag um 10.10 Uhr haben Sie das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung verkündet. Ist ihre letzte Entscheidung eine der wichtigsten ihrer Amtszeit?

Hans-Jürgen Papier: Ja, eine der wichtigsten zum Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit. Ich bin davon überzeugt, dass sie - nicht rechtlich, aber faktisch - europaweite Wirkung hat, zumal ja alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung umzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass das Verbot einer Totalüberwachung zur Identität der Verfassung Deutschlands gehört und auch von der europäischen Gesetzgebung nicht im Grundsatz negiert werden darf. Das ist eine Entscheidung, die weit über den konkreten Fall hinausreicht.

SZ: Welches Urteil Ihrer Amtszeit würden sie als ähnlich bedeutend ansehen?

Papier: Eine ganz wichtige Entscheidung war die zum Luftsicherheitsgesetz. Und zwar, weil dort klargestellt wurde, dass der Menschenwürdeschutz nicht abwägungsfähig ist. Das war wichtig, weil in der Wissenschaft Tendenzen der Relativierung auszumachen waren. Wichtige Fortentwicklungen enthielt auch das Urteil zur Online-Durchsuchung.

SZ: Ist das Urteil also eine Art Vermächtnis ihrer Rechtsprechung?

Papier: Jedenfalls sind diese Urteile durchgängig von einer Reihe tragender Prinzipien geprägt. So wurde ein Menschenwürdekern in den speziellen Freiheitsrechten herausgearbeitet, sei es beim Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, beim Schutz des Telekommunikationsgeheimnisses oder beim sogenannten Computergrundrecht.

SZ: Ein Muster, das sich ebenfalls wiederholt, ist: Der Gesetzgeber hat sich zu weit vorgewagt und wurde korrigiert.

Papier: Gesetze, die Grundrechtseingriffe ermöglichen, müssen nicht nur den Menschenwürdekern unangetastet lassen, sondern auch auf ein angemessenes Verhältnis von Zweck und Mittel achten und hinreichend bestimmt sein. Einige Gesetze des Bundes und der Länder sind - absichtlich oder unabsichtlich - über das Ziel hinausgeschossen, Terrorismus oder Schwerkriminalität zu bekämpfen. Teilweise haben sie auch die einfache Alltagskriminalität erfasst ...

SZ: ... und deshalb hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt eingegriffen.

Papier: Man muss fairerweise anerkennen, dass seit dem 11. September 2001 neue Gefährdungslagen bestehen und die verfassungsrechtlichen Grenzen neuer Instrumente etwa bei der Gefahrenabwehr noch nicht geklärt waren. Wenn wir jetzt eine gewisse verfassungsrechtliche Klärung erreicht haben, können sich Bund und Länder daran orientieren.

SZ: Diesmal haben sie dem Gesetzgeber keine Zeit zur Korrektur gelassen, sondern die Vorratsdatenspeicherung mit sofortiger Wirkung für nichtig erklärt. Gibt es eine Regel dafür, wann Sie Übergangsfristen gewähren?

Papier: Ist ein Gesetz verfassungswidrig, ist die Nichtigkeit die gesetzliche Regelfolge. Gerade bei den Sicherheitsgesetzen, etwa bei der Online-Durchsuchung oder bei der automatisierten Überwachung von Kfz-Kennzeichen, wurde die Nichtigkeit ausgesprochen. Fristen können dem Gesetzgeber als Ausnahme von dieser gesetzlichen Regel eingeräumt werden, wenn in der Übergangsphase ein Zustand ohne jede Regelung noch unbefriedigender wäre als ein vorübergehender Fortbestand des beanstandeten Gesetzes. Lasten für den Haushalt können dabei von Belang sein.

SZ: Vier Richter wollten diesmal eine Übergangsfrist gewähren. Haben also die anderen vier Richter, die sich mit der sofortigen Nichtigkeit durchgesetzt haben, die nun beschworene Sicherheitslücke als nicht so gravierend angesehen?

Papier: Wenn Sie das so sehen wollen.

SZ: Sie haben im Urteil gesagt, das Verbot der Totalüberwachung gehört zur Verfassungsidentität Deutschlands und ist damit "europafest". Nun fragt man sich auch vor dem Hintergrund der geplanten Speicherung von Fluggastdaten: Wann beginnt diese Totalüberwachung?

Papier: Ich kann zu weiteren denkbaren Verfahren nichts sagen, will aber den Gedanken aus unserem Urteil etwas präziser umreißen. Nach deutschem Verfassungsrecht ist eine vorsorgliche, anlasslose und flächendeckende Sammlung personenbezogener Daten unverdächtiger Bürger durch den Staat im Prinzip unzulässig. Sie kann nur erlaubt sein in Verbindung mit einer präzisen Zweckbestimmung. Ich finde, das ist eine wichtige Aussage: Schon die Vorratsdatenspeicherung als solche ist verfassungswidrig, weil angesichts der Schwere des Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis die Regeln über die Verwendung der Daten zu undifferenziert und zu weit waren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Konflikte es mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg geben kann.

SZ: Sie haben das Verfahren nicht dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg vorgelegt. Es hat den Anschein, dass sie dem Konflikt diesmal noch ausgewichen sind.

Papier: Wir sind nicht dazu berufen, Konflikte mit internationalen Gerichten zu suchen, sondern wir entscheiden, was an uns herangetragen wird. Ich bin überzeugt, dass die Lösung, die wir gefunden haben, nach deutschem Verfassungsverständnis zwingend war. Es war schlicht nicht entscheidungserheblich, ob die EU-Richtlinie gültig ist oder nicht, weil die grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes einer - anders gestalteten - Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber nicht entgegenstehen. Deshalb kam eine Vorlage an den EuGH nicht in Betracht.

SZ: Der EuGH hat kürzlich den deutschen Kündigungsschutz für jüngere Arbeitnehmer als einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot eingestuft. Ungewöhnlich war: Der EuGH hat die deutschen Gerichte angewiesen, die entsprechenden Paragrafen nicht anzuwenden. Ist der EuGH damit zu weit gegangen?

Papier: Zu diesem konkreten Fall möchte ich mich nicht äußern. Allgemein kann man sagen, der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht ist grundsätzlich unbestritten. Anstatt über Urteile des EuGH zu klagen, sollte man schon beim Erlass von Gemeinschaftsrecht ansetzen - die Normen fallen ja nicht vom Himmel. Ich warne seit jeher vor einer Normenflut, das gilt auch für die EU. Je mehr Unionsrecht erlassen wird, desto mehr Entscheidungen des EuGH wird man erwarten müssen. Die Gesetzgeber sollten sich öfter fragen: Muss etwas überhaupt geregelt werden? Und muss das unbedingt auf EU-Ebene stattfinden? Auch die nationalen Parlamente erhalten hier durch den Vertrag von Lissabon eine herausragende Stellung ...

SZ: ... eine Stellung, die sie bisher nicht ausreichend nutzen?

Papier: Zumindest die nach früherem Recht bestehenden Möglichkeiten wurden nicht hinreichend genutzt.

SZ: Konfliktpotential birgt auch das Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Waren sie in den letzten Jahren über manches Judikat aus Straßburg überrascht?

Papier: Divergierende Entscheidungen und ein ungewolltes Spannungsverhältnis sind im Verhältnis zum Menschenrechtsgerichtshof wahrscheinlicher als im Verhältnis zum EuGH. Weil sich jeder Beschwerdeführer aus Deutschland in Straßburg zuvor an das Bundesverfassungsgericht wenden muss, besteht die Möglichkeit unterschiedlicher Entscheidungen zum selben Sachverhalt ...

SZ: ... und auf der Basis sehr ähnlicher Rechtsquellen ...

Papier: Ja. Die meisten Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention sind inhaltlich den Grundrechten des Grundgesetzes ähnlich. Ich bin ein großer Anhänger eines sich ergänzenden Grundrechtsschutzes - nicht eines Schutzes, der sich durch divergierende Entscheidungen auszeichnet. Davon haben die Bürger in Europa nichts.

SZ: Wie lässt sich das erreichen?

Papier: Trotz kollegialen Austausches werden Divergenzen sich nicht immer vermeiden lassen. Ich wünsche mir, dass der EGMR sich vor allem auf die Feststellung offensichtlicher Fehler und willkürlicher Ergebnisse beschränkte und nicht nach Art einer Superrechtsmittelinstanz Einzelfallabwägungen der nationalen Gerichte korrigierte und ersetzte.

SZ: Viele Kritiker meinen, Karlsruhe wage sich zu weit in die Politik vor.

Papier: Die letztverbindliche Entscheidung über die verfassungsrechtlichen Grenzen des politischen Handlungsspielraums trifft nach unserem Grundgesetz nun einmal das Verfassungsgericht. Diese Grenzen lassen sich nicht abstrakt oder statisch festlegen. Wer dem Gericht diese Entscheidungsmacht über die Abgrenzung von politischen Spielräumen und gerichtlicher Kontrolle entziehen will, beginnt die Verfassungsgerichtsbarkeit der Sache nach in Frage zu stellen. Auch in den meisten Verfassungsstaaten ist das richterliche Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen inzwischen selbstverständlich.

SZ: Ihre zwölfjährige Amtszeit geht in wenigen Tagen zu Ende. Hat sich während dieser Zeit ihr Koordinatensystem verändert? Kommt man anders raus aus dem Gericht, als man reingegangen ist?

Papier: Das hohe Niveau der Beratungskultur im Bundesverfassungsgericht hat mich beeindruckt. Man muss die Kollegen mit Argumenten überzeugen und nicht mit von außen herangetragenen Einschätzungen.

SZ: Dienstag, 2. März, 12.30 Uhr: Mit welchem Gefühl haben Sie nach ihrem letzten Urteil den Saal verlassen?

Papier: Mir war bewusst, dass mir eine große Veränderung bevorsteht. Aber ich kann nicht sagen, dass ich von Wehmut geplagt bin. Ich habe die Lasten, die mit dem Amt verbunden sind, gern getragen. Ich bin aber nach zwölf Jahren auch froh, dass ich diese Lasten ablegen kann.

Andreas Voßkuhle wird neuer Präsident

Der Wahlausschuss des Bundestags den bisherigen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, zum neuen Präsidenten. Offizieller Amtswechsel ist voraussichtlich Mitte März. Der auf Vorschlag der SPD gewählte Freiburger Professor wird die nächsten zehn Jahre an der Spitze des Gerichts stehen und - wie schon seit Mai 2008 - den Zweiten Senat leiten. Den Vorsitz im Ersten Senat übernimmt der Tübinger Professor Ferdinand Kirchhof, ein CDU-Kandidat, der dem Gericht seit Oktober 2007 angehört. Der dritte Nachfolger ist Andreas Paulus: Der auf dem "FDP-Ticket" gewählte Professor für Völkerrecht an der Universität Göttingen übernimmt die frei werdende Richterstelle im Ersten Senat.

© SZ vom 6.3.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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